Seit Rolando Villazon und Anna Netrebko bei den Salzburger Festspielen 2005 als Traumpaar auf der Bühne standen, hat Verdis „La Traviata“ einen medialen Boom erfahren, der seinesgleichen sucht. Diese Oper Verdis, 1853 uraufgeführt, gehört neben „Rigoletto“ und „Il Trovatore“ zu seinen bekanntesten Werken. Die eingängigen Melodien sind hundertfach bearbeitet worden, jeder kennt sie, und sei es auch nur als Hintergrundmusik von Eis- und Kaffeewerbung. Die Popularität der Musik, die begeisternde Wirkung, die von ihrer Italianità ausgeht, ist unbestritten. Aber auch die Geschichte von dem Scheitern der Liebe einer schwindsüchtigen Edelprostituierten zu einem jungen Mann aus guter Familie im Paris des 19. Jahrhunderts weist mehr Bezüge zu unserer Zeit auf, als das Opernklischee vermuten lässt.
Violetta – jung, schön und verführerisch – ist der Star in einer Welt des schnellen Vergnügens und der rauschenden Feste. Ihre tödliche Krankheit scheint überwunden, und sie feiert ihr Comeback in einer Gesellschaft, die sie zu dem gemacht hat, was sie ist: ein Sexidol, aus armen Verhältnissen stammend, mit Verehrern aus den besten Kreisen, die zu ihr aufschauen und ihre erotischen Sehnsüchte auf sie projizieren. Doch Violettas Lebenszeit läuft ab, ihre Krankheit bricht wieder aus, und noch einmal, ein letztes Mal sehnt sie sich nach der einen großen Liebe in ihrem Leben, bevor sie stirbt. Bereits das berühmte Vorspiel am Anfang der Oper kreist um die Themen morte und amore: In ätherischen Streicherklängen erklingt Violettas Todesahnung, aus der sich die ausladende sehnsüchtige Melodie ihres Liebesverlangens aufschwingt – den nahen Tod vor Augen möchte sie noch einmal lieben. Mit diesen Vorzeichen stürzt sie sich ein letztes Mal voller Hoffnung ins Leben, um am Schluss endgültig zu scheitern. Aus diesem Grund wollte Verdi der Oper zunächst den Titel „amore e morte“ – „Liebe und Tod“ – geben, doch dann entschied er sich für „La Traviata“ – „Die Verirrte“ – und betonte damit die gesellschaftliche Komponente ihre Scheiterns. Violetta ist eine Frau, die die Spielregeln ihres Aufstiegs verletzt und die vorgeschriebenen Bahnen der ihr zugewiesenen Rolle verlässt. Sie will nicht mehr amüsieren, sondern beansprucht privates Glück für sich. Denkt man an das Schicksal einer Nitribitt, Monroe oder Callas, so fällt folgende Parallele auf: Solange diese Frauen die Rollenerwartungen bedienten, die man an sie stellte – die Hure, der Filmstar, die Diva –, belohnte man sie und überschüttete sie mit Applaus, sobald sie um ihrer selbst willen geliebt werden wollten, ließ man sie fallen. Am Ende zahlten alle drei, allein und verlassen, mit dem Leben dafür.
Die bigotte Gesellschaft, die Verdi und sein Librettist Piave zeigen, ist gnadenlos, da hilft auch die späte, zu späte Reue Alfredos und seines Vaters am Sterbebett Violettas nicht. Ihr Liebesglück bleibt unerfüllt, den Hinterbliebenen bleibt zumindest die Illusion der guten Absicht. Posthum verklärt man die Hure zur Heiligen.
Auch unsere heutige Amüsiergesellschaft in ihrer hysterischen Suche nach dem Superstar ist gnadenlos: Krankheit, Alter und Tod werden ausgeblendet; was zählt, ist die Illusion ewiger Jugend, selbst im Tod: Wer früh stirbt, steigt zur Ikone auf.
„La Traviata“ I Musiktheater im Revier Gelsenkirchen I 25./30.12.
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