Es ist eine rohe, gewalttätige Männerwelt, der die zarte Lucia di Lammermoor ausgeliefert ist. Regisseur Christian Pade stellt es gleich zu Beginn des ersten Aktes unmissverständlich klar. Gleich dutzendweise ballern die Jäger und Soldaten Vögel vom Himmel. Lucias Bruder Enrico, der Lord, lässt es sich nicht nehmen, den gerade erlegten Hirschen selber auszuweiden. Wütend rammt er dem toten Tier immer wieder sein Messer in den Bauch, reißt ihm die Eingeweide geradezu heraus, bevor schließlich noch der untergebene Hauptmann seinen Zorn handgreiflich zu spüren bekommt – als Überbringer schlechter Nachrichten. Es ist ein starker, heftiger Gefühlsausbruch, den Pade mit reichlich Kunstblut auf die Bühne der Dortmunder Oper bringt und der seine Wirkung nicht verfehlt. Zugleich wird klar: Mit dem düster-romantischen Ambiente des spätmittelalterlichen Schottlands haben Pade und Ausstatter Alexander Lintl nichts im Sinn. Sie demontieren es vollständig und – so jedenfalls scheint es zunächst – suchen den emotionalen Kern der Handlung herauszustellen.
Der Ansatz scheint vielversprechend, doch die guten Einfälle sind schnell verpufft, zum Teil von der Regie selber wieder zunichte gemacht. Wenn Tenor Charles Kim als Edgardo (eigentlich ein schottischer Krieger) in Business-Anzug und Hornbrille auftritt und sich per Handschlag von der Geliebten in die Ferne verabschiedet, bleibt nicht einmal etwas vom Kern übrig, was Gaetano Donizetti und sein Librettist Salvatore Cammarano einst im Sinn hatten. Doch damit nicht genug, stellt die Regie im zweiten Akt beinahe vollständig die Arbeit ein. Arien und Ensembles gibt es abwechselnd als reine Rampengesänge oder auf einem Sammelsurium schmuckloser Stühle vorgetragen, während sich immerhin die Drehbühne mit einem in wechselnden Farben beleuchteten Lammellenkasten noch bewegt.
Immerhin die Besetzung bietet einen wirklichen Lichtblick und bewahrt das Publikum vor dem sicheren Tiefschlaf. Mit Christina Rümann und Julia Amos stehen als Lucia zwei junge Koloratursopranistinnen im Wechsel auf der Bühne, die zwar über wenig dramatisches Gewicht, dafür aber über herausragende technische Leichtigkeit und jede Menge jugendlich-lyrische Ausstrahlung verfügen. Für die wichtige „Wahnsinnsarie“ im dritten Akt – Lucia hat ihren Zwangsehemann im Brautbett erstochen und ist nun dem Wahnsinn verfallen – bedeutet dies eine wesentlich dezentere, aber nicht minder überzeugende Auslegung als in anderen Inszenierungen. Immerhin gelingt es der Regie noch, die Klammer zu schließen. Lucia ist nun über und über mit Blut besudelt. Es ist das Blut des ungeliebten Mannes. Das Bild allerdings suggeriert: Es ist Lucia, der vom machtbesessenen Bruder das Herz herausgerissen wurde.
Rein musikalisch ist die Produktion durchaus lohnenswert. Neben der glänzenden Titelpartie singt auch Tenor Kim einen viel überzeugenderen Edgardo, als es seine alberne Kostümierung eigentlich zulässt. Und Simon Neal gibt einen kernigen, aber nicht eindimensionalen Enrico mit diabolischen Zügen. Am Pult macht Motonori Kobayashi einen grundsoliden Job. Vor allem in ihrem ausgewogenen Klangbild hinterlassen die Dortmunder Philharmoniker einen guten Eindruck.
„Lucia di Lammermoor“ von Gaetano Donizetti | R: Christian Pade | So 8.5. 18 Uhr, Mi 18.3., Fr 27.5., je 19.30 Uhr | Opernhaus Dortmund | 0231 502 72 22
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Besiegt Vernunft die Leidenschaft?
„Orlando“ an der Oper Köln – Oper in NRW 11/24
Unerwartet Kaiserin
„Der Kreidekreis“ in Düsseldorf – Oper in NRW 11/24
Horror und Burleske
Die Spielzeit 24/25 am Gelsenkirchener MiR – Oper in NRW 07/24
Opern-Vielfalt am Rhein
„Nabucco“ eröffnet in Düsseldorf die Spielzeit 2024/25 – Oper in NRW 06/24
„Kritische Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit“
Kapellmeister Hermes Helfricht über Werner Egks „Columbus“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 06/24
Welt ohne Liebe
„Lady Macbeth von Mzensk“ am Theater Hagen – Oper in NRW 05/24
Die Gefahren der Liebe
„Die Krönung der Poppea“ an der Oper Köln – Oper in NRW 05/24
Absurde Südfrucht-Fabel
„Die Liebe zu den drei Orangen“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 04/24
Grund des Vergessens: Rassismus
Oper von Joseph Bologne am Aalto-Theater Essen – Oper in NRW 03/24
Verpasstes Glück
„Eugen Onegin“ in Bonn und Düsseldorf – Oper in NRW 02/24
Täuschung und Wirklichkeit
Ein märchenhafter Opern-Doppelabend in Gelsenkirchen – Oper in NRW 02/24
Unterschätzte Komponistin?
„Der schwarze Berg“ an der Oper Dortmund – Oper in NRW 01/24
Geschlossene Gesellschaft
„Flight“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 01/24
Der unfassbare Gott
Oper Bonn zeigt Arnold Schönbergs „Moses und Aron“ – Oper in NRW 12/23
Unheimlich ungelebte Geschichte
„Septembersonate“ an der Rheinoper Düsseldorf – Oper in NRW 11/23
Ein Schluck auf die Liebe
„Der Liebestrank“ an der Oper Köln – Oper in NRW 11/23
Fluch der tragischen Rache
„Rigoletto“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 10/23
Lynchmord in New Orleans
Uraufführung von „The Strangers“ an der Oper Köln – Oper in NRW 09/23
Radikaler Minimalismus
„Parsifal“ in Düsseldorf – Oper in NRW 09/23
Komplexer Märchenstoff
„Die Frau ohne Schatten“ in der Oper Köln – Oper in NRW 08/23
Hexen, Blut und Wahnsinn
„Macbeth“ am Aalto-Theater in Essen – Oper in NRW 08/23
Fiasko in forschem Ton
„König für einen Tag“ in Gelsenkirchen – Oper in NRW 07/23
Schlüsselwerke der Moderne
Opern-Spielzeit 23/24 in Bonn und Köln – Oper in NRW 06/23
Bestechende Vielfalt
Opern-Spielzeit 23/24 an Rhein und Ruhr – Oper in NRW 06/23
Kampf durch Klang
„Der singende Teufel“ ungekürzt an der Oper Bonn – Oper in NRW 05/23