Cio-Cio-San hat sich herausgeputzt. Sie will sich unterscheiden von den billigen, Kaugummi kauenden Huren in kurzem Rock und langen Plateau-Stiefeln, die in Wahrheit ihre Kolleginnen sind. Doch der edle Kimono wirkt deplatziert. Ihr Bräutigam F.B. Pinkerton ist zwar Offizier, aber kein Gentleman. Für die Hochzeit mit seiner gekauften Braut Cio-Cio-San, der „Madame Butterfly“, hat er keinen Aufwand getrieben. Er kommt in alten Jeans und Baseballcap, lässt den Bierbauch aus der geöffneten Lederjacke hängen. Pinkerton will nicht mehr als billigen Sex, Alkohol und Zigaretten. Und er weiß, dass er als Amerikaner nicht groß darum bitten muss. Seine Dollars machen ihn zum uneingeschränkten Herren über die gleichermaßen armen wie korrupten Asiaten.
Für das hochentwickelte Japan will die Situation heute nicht mehr so recht passen. Doch ein paar tausend Kilometer weiter gen Südwesten, irgendwo zwischen Bangkok und Phnom Penh, könnte die Geschichte der „Madame Butterfly“ auch heute noch spielen. Die Hochzeit mit einem Weißen verheißt Wohlstand und einen Ausweg aus der Armut. Doch der pragmatische Ansatz schließt keineswegs die romantische Überhöhung aus. Und so glaubt Cio-Cio-San fest an ihre Ehe, während sie für Pinkerton nur eine Farce und Episode darstellt. Tilmann Knabe gelingt an der Essener Aalto-Oper eine Neuinszenierung des Puccini-Dauerbrenners, die den Kern der Oper trifft und ohne große Verrenkungen auskommt.
Knabe haftet das Image des Provokateurs an – auch weil er gern reichlich Bühnenblut vergießt. Bei Puccinis Butterfly sind die Gelegenheiten für solche Gemetzel ziemlich rar. Immerhin kann es sich Knabe nicht verkneifen, noch vor Beginn der Musik einen Trupp Putzmänner und Anstreicher in Schutzanzügen durch Pinkertons neues, schneeweißes Haus wuseln zu lassen. Der Eindruck: Hier wird gerade ein blutiger Tatort beseitigt. Ansonsten konzentriert sich die Regie auf die gründliche Demontage allen schmucken Asien- und Marine-Dekors. Selbst die anfänglich hübsche Fassade der jungen (Schein-) Ehe ist extrem fadenscheinig. Und hinter ihr verbergen sich Typen wie der schmierige, goldbehangene Zuhälter Goro, der Butterfly verkauft hat. Selbst der zwielichtige US-Konsul Sharpless macht mit ihm gemeinsame Sache. Sie alle betreiben den Ausverkauf der alten asiatischen Kultur. Und so bleibt schließlich die einst anmutige und zierliche Butterfly als Zerrbild einer verfetteten und verwahrlosten Unterschichten-Amerikanerin in ihrem Haus zurück. Das strahlende Weiß der Wände ist nikotinvergilbt, die Zimmer sind zugemüllt. Das Sternenbanner und ein Obama-Poster an der Wand sollen der Behausung einen letzten Rest Würde verleihen und zeigen: Cio-Cio-Sans Treue und ihr Sohn sind alles, was ihr geblieben ist. Pinkerton wird ihr auch das noch nehmen.
Auf den ersten Blick mag die unverblümt widerliche Welt der Butterfly aus Armut und Ausbeutung als Kontrast zur spätromantischen Partitur Puccinis erscheinen. Doch Stefan Soltesz beweist mit den Essener Philharmonikern das Gegenteil. Das liebliche japanische Kolorit, das bei „Madama Butterfly“ einen großen authentischen Kern besitzt, stellt nur eine Seite der Medaille dar. Die andere und wichtigere ist eine tiefe Traurigkeit, die Annemarie Kremer als Cio-Cio-San vortrefflich in ihrer Stimme transportiert. Kremer klingt nicht wie ein hilfloses Opfer. Sie hofft und kämpft – um ihren Sohn, um den vermeintlichen Ehemann – und zieht am Ende die einzig verbleibende blutige Konsequenz. So klingt auch ihr Gesang: nicht auf romantischen Hochglanz poliert, aber kraftvoll nuanciert und ausdrucksstark. Eine Butterfly, die sich zu erleben lohnt!
„Madame Butterfly“ von Giacomo Puccini I R: Tilman Knabe I Aalto-Musiktheater Essen I Mi 1.6. 19.30 Uhr, Do 9.6. 19.30 Uhr, So 19.6. 19.00 Uhr I 0201 812 22 00
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