Seine „Erklär-Konzerte“ sind mittlerweile Kult. Zuletzt brachte er Licht in Konstruktion und Geschichte aller Sinfonien des Bonner Wunderknaben Ludwig van Beethoven. Mit dessen Neunter krönt Christoph Spering, der Musikforscher, Dirigent und Ensemblegründer bzw. -leiter, alljährlich sein erbrachtes Arbeitspensum – diesmal nach dem Silvesterkonzert in Düsseldorf auch zu Jahresbeginn in der Kölner Philharmonie.
Das Besondere an diesem Umstand liegt in der Diskrepanz von Werk und Interpret. Beethovens Neunte mit dem „gewaltigen“ Schluss-Chor im Jubel über die „Freude schöner Götterfunken“ ruft im Normalfall Heerscharen von Choristen und im Solistengespann die kräftigsten Wagner-erprobten Stimmen auf den Plan. Spering verwaltet mit seinem Originalklang-Ensemble „Das Neue Orchester“ (heuer im 30. Jahr) und seinem zuvor gegründeten „Chorus Musicus“ eine Klangästhetik, die weniger auf Pomp und Krawall setzt als vielmehr auf die Spurensuche nach Kongruenz: Das Werk soll zur Vorstellungswelt des Komponisten in seiner Zeit passen. Antworten auf die Frage der musikhistorisch geeichten Musikforscher seit gut fünfzig Jahren: Wie hat es wohl damals geklungen?
Dabei entwickelte Christoph Spering, Jahrgang 1959, die wunderbare Doppelstrategie des aktiv im Konzertleben praktizierenden Musikhistorikers: Geschichte und Umsetzung historischer Erkenntnis auf Grundlage von Quellenstudien gehen Hand in Hand, wie es Mentoren und Heroen wie Reinhard Goebel in Köln oder Nikolaus Harnoncourt in Salzburg und Wien vorgelebt haben. Partituren werden dem Dunkel der Geschichte entrissen. Was sich zunächst auf die Renaissance- und Barockzeit beschränkte, wurde schnell bis in die Romantik ausgeweitet. Wenn dort gelagerte Partituren auch ewig bekannt sind – sie werden jetzt neu gelesen.
So ergibt sich auch für die Besetzung, die Spering für die Worte aus Schillers Ode „An die Freude“ verpflichtet hat, ein neues Bild. Angepasst an den schlankeren Instrumentenklang des Orchesters können jetzt auch lyrische Stimmen zum Einsatz kommen. Mangelnder Klangdichte der Instrumente begegnet der historisch informierte Interpret mit aktiverem Spiel, mit ruppigen Akzenten, in höheren Tempi. Dafür sorgt das Streicherspiel ohne Vibrato für den ergreifenden Unschuldsklang als Kontrast zur Unruhe, die dieser vom Dirigenten angestachelten neuen Lebendigkeit einer ansonsten arg abgewetzten Partitur im Auf und Ab der großen Emotionen schon vor dem Choreinsatz Spannung beschert. Hier arbeitet niemand mit der Brechstange. Spering lässt Beethovens Musik von diesem Wunder erzählen, das immerhin in ihrer Zeit einen neuen Gipfel im sinfonischen Wirken des „sinfonischen Riesen“ (Brahms) verankerte. Bekanntes nochmals aus einem anderen Blickwinkel betrachten, hören und abwägen – das könnte ganz allgemein eine Empfehlung für das private und berufliche Neue Jahr sein.
Das Neue Orchester, Chorus Musicus Köln, Christoph Spering: Beethoven: Sinfonie Nr. 9 | Do 4.1. 20 Uhr | Kölner Philharmonie | 0221 280 280
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