Rainer Bock wurde 1954 in Kiel geboren und debütierte mit 28 Jahren auf den Bühnen seiner Heimatstadt. Nach vielfältigen Theaterengagements, u.a. am Residenztheater in München, wurde er durch seine Rollen in „Im Winter ein Jahr“ und „Das weiße Band“ schließlich auch zum gern besetzten Filmschauspieler. Seitdem stand er für Christian Petzold („Barbara“), Steven Spielberg („Gefährten“), Quentin Tarantino („Inglourious Basterds“) und Til Schweiger („Schutzengel“) vor der Kamera. Ab dem 16. April ist er im Kino in „Dessau Dancers“ als Trainer einer DDR-Breakdance-Gruppe zu sehen.
Engels: Herr Bock, was faszinierte Sie am meisten an „Dessau Dancers“ und gab den Ausschlag für Ihre Zusage?
Rainer Bock: Ausschlaggebend war zunächst natürlich das Drehbuch, das ist immer der Grund, warum man zu- oder absagt. Das war eine Sicht auf diese Zeit und das DDR-Regime aus einer ganz anderen Perspektive. Ich habe mich schon öfter damit beschäftigt, und es interessiert mich noch nach wie vor. Genauso, wie mich auch die noch ältere deutsche Vergangenheit immer wieder interessiert. In diesem Fall wusste ich zunächst einmal überhaupt nichts davon, dass es diese Breakdance-Bewegung tatsächlich gegeben hatte. Davon war ich sehr überrascht und hielt das für eine fiktionale Behauptung. Aber nach einigen Recherchen erkannte ich, dass die Geschichte auf Tatsachen beruht. Natürlich sind die Liebesgeschichte und viele kleine Nebenhandlungen erfunden, aber grundsätzlich ist das damals so abgelaufen. Diese Form des Aufbegehrens und des Sich-nicht-konform-machen-Wollens mit der Doktrin fand ich spannend. Für junge Leute ist das in Verbindung mit einer Liebes- und Musikgeschichte sicherlich auch in unserer heutigen Zeit noch interessant.
Die realen Hintergründe erscheinen tatsächlich etwas widersinnig, da Breakdance ein Zeichen der Individualität war und vom DDR-Regime sozusagen in Formation gebracht wurde...
Ja. Als ich den Film zum ersten Mal komplett gesehen habe, wurde der Moment zu meiner Lieblingsszene, als die Jungs vor dem Stasi-Mann stehen und sagen: „Das ist die Bewegung der Arbeiterklasse in Amerika, die der Entrechteten und Entmachteten“. Dann heben sie ihre Hände zum Rotfront-Zeichen (lacht). An dieser Stelle werden der Ideologie- und Bürokratie-Wahnsinn ad absurdum geführt, was ich toll finde.
Ihre Rolle hat enorm viele Facetten. Zu Beginn ist sie der Schinder, dann wird sie zum Sympathieträger bevor sie sich am Ende noch mal anders entwickelt. Was davon hat Ihnen am meisten Spaß gemacht?
Genau das hat mir Spaß gemacht! Es wäre für mich stinklangweilig gewesen, einfach nur einen Apparatschik zu zeigen. Die Biografie dieses Mannes ist ja insofern witzig, weil behauptet wird, er wäre der zweite Assistenztrainer der DDR-Turnerriege bei den Olympischen Spielen in Moskau gewesen (lacht). Dessen Aufgaben warenvermutlich, den Kreidekasten aufzufüllen und dafür zu sorgen, dass die Handtücher in der Garderobe richtig liegen. Als Breakdancetrainer wittert er in der Betreuung der Jugendlichen die Chance seines Lebens und erwirbt sich damit eine Pseudo-Autorität. Beim Lesen des Drehbuchs war mir schnell klar, dass in der Figur mehr steckt als nur eine graue DDR-Maus.
Wie war die Zusammenarbeit mit Wolfgang Stumph, der in den letzten Jahren der DDR noch zu einem der größten Publikumslieblinge des Staates geworden ist?
Das war ganz wunderbar. Man kennt ihn ja auch aus solchen Kontexten. Er hat einen großen Humor und sieht die Zeit, auch weil er sie selbst erfahren hat, mit ganz kritischen Augen. Er kann sich aber auch aus einer kabarettistischen Sicht und Denkweise heraus unheimlich lustig machen darüber und das gleichzeitig sehr ernst verkaufen.
Gedreht wurde der Film größtenteils in Halle, nicht in Dessau, weil dort vermutlich noch bessere Motive zu finden waren?
Ja, bei so etwas entscheidet immer die Motivwahl. Es war nicht der erste Film, den ich in Halle gedreht habe. Auch „Lauf, Junge, lauf“ wurde beispielsweise dort gedreht, weil es in Halle noch absolut nicht veränderte DDR-Architektur gibt, teils erhalten, teils verfallen, so dass man fast nichts mehr verändern musste.
Sie waren fast fünfzig, als Sie zum ersten Mal in größeren Rollen vor der Kamera gestanden haben...
Ja, das stimmt. Das muss an unserer Schauspielklasse gelegen haben, Axel Prahl hat seine Karriere auch erst mit Anfang vierzig gemacht (lacht). Prahl und ich waren zusammen in einer Schauspielklasse. Ich habe jahrelang Theater gespielt und mit dem Medium eher ein wenig gefremdelt, vielleicht das Medium auch mit mir, das ist durchaus möglich. Vor dem „Weißen Band“ habe ich auch schon Filme gedreht, aber dadurch geriet dann doch ein bisschen mehr der Fokus auf mich. Die Theaterarbeit hatte mich zuvor einfach ausgefüllt. Ich habe über Heidelberg, Mannheim, Stuttgart bis nach München mit den gleichen Regisseuren und Kollegen eine Kontinuität am Theater aufgebaut, bei der sich künstlerische Arbeit ungleich besser entwickeln konnte als beim Drehen. Ich mochte auch das Familiäre des Ensembles sehr gerne.
Haben Sie denn trotz komplexerer Zeitpläne für Dreharbeiten noch Gelegenheit zum Theaterspielen?
In den letzten vier Jahren hat es immer sehr gut geklappt, im Winter eine Theaterproduktion zu machen. Vor vier Jahren war das in Düsseldorf, und in den letzten drei Jahren in Zürich. Das macht mir immer großen Spaß und ist auch wichtig, weil Dreharbeiten einen meistens intellektuell ein bisschen unterfordern. Ich sage das mit aller Vorsicht, weil es natürlich auch Rollen gibt, mit denen man sich stark auseinander setzen muss, aber diese Projekte sind da doch eher seltener. Und das ist am Theater das Tolle, dass man sich über Wochen zutiefst in etwas versenken kann.
Kommt die Unterforderung beim Drehen durch das Häppchenweise und das Diskontinuierliche?
Nein, dadurch, dass alles so wahnsinnig viel Geld kostet und man deswegen keine Zeit hat, etwas auszuprobieren. Man darf sich das nicht so vorstellen, dass man am Set für eine Szene stundenlang künstlerische Arbeit investiert. Wenn man bedenkt, dass ein „Tatort“ früher 26 bis 27 Drehtage hatte und heute nur noch 21, das Pensum mit 90 Minuten aber das gleiche ist, dann kann man sich vorstellen, wo diese Zeit verloren geht, nämlich im künstlerisch-kreativen Prozess, und das ist so schade. Das merkt man auch irgendwann deutlich, deswegen darf diese Tendenz nicht weitergehen, sondern muss gestoppt werden!
„Das weiße Band“ war die Initialzündung Ihrer Kinokarriere, die Sie mittlerweile auch zu Zusammenarbeiten mit Steven Spielberg, Quentin Tarantino oder Brian De Palma geführt hat. Wie sehen Sie diese Traumkarriere der letzten Jahre nun aus der Retrospektive
Einfach wunderbar, ich habe viel Glück gehabt. Der Film mit Michael Haneke war einfach ein Glücksfall. Dass es ein guter Film geworden ist, ist nicht unbedingt ein Glücksfall, denn wenn man die Filme von Michael Haneke kennt, dann weiß man, dass das toll wird. Aber dass ich dabei sein durfte, war ein Glücksfall. Ich habe es sehr genossen, diese Chance nutzen zu können und all diese Erfahrungen machen zu können, die mir sehr viel Spaß gebracht haben. Ich sehe das aber mittlerweile auch ganz gelassen, weil ich weiß, wie das Gewerbe ist und dass es Schwankungen unterliegt. Das, was ich erlebt habe, kann mir aber keiner mehr nehmen, und da sind wunderbare Geschichten dabei gewesen.
Was hat von diesen ganzen Begegnungen und Projekten denn den bleibendsten Eindruck bei Ihnen hinterlassen?
Der bleibendste Eindruck war sicherlich die Begegnung mit Michael Haneke. Ich habe erfahren, dass es eine Art Selbstbewusstsein gibt, die es zulassen kann, anderen auf Augenhöhe zu begegnen. Und zwar mit einer großen Gelassenheit und mit einem großen Interesse an der Sache. Das hat mich bei der Begegnung mit amerikanischen Kollegen und auch mit den Regisseuren, die Sie gerade genannt haben, sehr beeindruckt. Da ging es nicht mehr darum, irgendwem beweisen zu müssen, wer man ist oder was man bisher gemacht hat, sondern es kam wirklich aus einer ganz zugewandten und augenzwinkernden, mit viel Humor versehenen Selbstverständlichkeit, was ich wunderbar fand.
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