Das deutsche Kino ohne Schwung und Vision – dieser Vorwurf wird immer wieder laut. Anlässlich des 50. Jubiläums des Oberhausener Manifests für mehr Kreativität und Freiheit bei der Filmproduktion fragte das Filmmagazin Schnitt in einer gemeinsamen Veranstaltung mit der ifs Internationale Filmschule Köln nach dem heutigen Stand des Jungen Deutschen Films. Wenn auch heutige Filmemacher über weitaus mehr technische und kreative Möglichkeiten verfügten als diejenigen, die das Oberhausener Manifest unterzeichneten, fänden sich allzu häufig nach einem scheinbar erfolgreichen Rezept gedrehte Filme in deutschen Kinos. Etwas anderes habe auf der Leinwand kaum eine Chance, so der Regisseur Andreas Dresen in einem Interview mit Schnitt. Ist das deutsche Kino tot?
Gemeinsam mit der ifs Internationale Filmschule Köln lud Schnitt einen jungen Regisseur und sein Schauspielerteam dazu ein, sich zu dieser Frage und zum deutschen Kino zu äußern. Axel Ranisch feierte mit seinem Debütfilm „Dicke Mädchen“ von 2011 bereits große Erfolge: neben zahlreichen Preisen (unter anderem den Berndt-Media-Preis für den besten Filmtitel) ist der mit nur 571,30 € gedrehte Film bereits in den USA auf Festivals zu sehen. Am 8.2. trafen Axel Ranisch, Ruth Bickelhaupt, Heiko Pinkowski und Peter Trabner im Filmforum auf ein interessiertes Publikum.
Als Gegenstück zu jeglichem Mainstream ist „Dicke Mädchen“ ein Exempel für ein Werk jenseits vorgegebener Strukturen: die lediglich entlang eines roten Fadens entsponnene Handlung entwickelte sich vor allem aus der Improvisation der Schauspieler. Der Film wurde ohne jegliche Förderung produziert.
Diese Besonderheit hat zwei Gründe: Axel Ranisch brauchte einen Diplomfilm, und er war ungeduldig. Auf Förderung zu warten hätte nicht nur Zeit erfordert, auch wären zahlreiche Kompromisse mit den Förderern notwendig gewesen. Ranisch machte es anders. Neben den zwei Schauspielern Pinkowski („Glück“) und Trabner („Papa Gold“) bezog er seine 73-jährige Großmutter ein, um einen Stoff umzusetzen, der ihm schon lange am Herzen lag. Damit war Raum gegeben für kompromisslose Kreativität in der Umsetzung des 76-minütigen Films, der stark von der gegenseitigen Vertrautheit des kleinen Teams profitierte.
Ohne Unterstützung zu drehen bot die Erfahrung, einfach loslegen und sich somit jenseits von Vorgaben bewegen zu können. An diesen kranke laut Ranisch auch das deutsche Filmwesen häufig: denn je größer die gewährte Förderung, desto größer die Einmischung, desto beschnittener jede Kreativität des Regisseurs. Folgende Punkte greifen Ranisch und sein Team auf: das oft als „ohne Schwung“ bezeichnete deutsche Kino werde von den allzu großen Vorgaben schon in seinem Keim erstickt. Auch seien Produktionen über 90 Minuten viel zu langatmig, wovon ein Film kaum profitiere. Das Risiko, ohne eine Förderung auf seinen Kosten sitzen zu bleiben, sei zu hoch. Frei produzierte Filme hätten es darum schwer, sich beim Publikum und potentiellen Förderern zu etablieren. Eine Förderung, die ohne Einmischung und Vorgaben gewährt würde, sei sicher notwendig, doch kaum realistisch. Bei ihrer zeitgleich zum Dreh gegründeten Produktionsfirma „Sehr gute Filme“ ist nicht nur der Name Programm: Ranisch und sein Team verlasen ein von ihnen festgelegtes „Sehr gutes Manifest“ für Produktionen im Stile von „Dicke Mädchen“.
Ihr Manifest ist ein Plädoyer: „ ...für eine Freiheit von Budgetzwängen, der unbeschnittenen Intuition als wichtigstem Werkzeug (...) Für wahrhaftige Themen, zwischen Realismus und Fantasie, Alltag und Abstraktion. (...) Für Filme, die musikalisch, politisch, einfach gestrickt und abgrundtief echt sind. (...) Sehr gute Filme sind die Bioprodukte der deutschen Kinolandschaft“. Ein solches Manifest müsse Eingang in die Köpfe der Förderer erhalten. Erst dann sei das Vertrauen in ein Filmteam geschaffen, um ohne Bevormundung in Produktionsfirmen wie „Sehr gute Filme“ zu investieren.
„Dicke Mädchen“ kommt 2012 im Frühjahr oder Herbst in die Kinos. Bekanntgabe unter engels.de.
ifs Internationale Filmschule Köln
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