Philip Koch, 1982 in München geboren, studierte an der Hochschule für Fernsehen und Film München. Mit seiner eigenen Produktionsfirma macht er Dokumentarfilme, Werbe- Industrie- und Imagefilme. Nach einigen Kurzspielfilmen ist „Picco“ sein erster Kinofilm.
engels: Herr Koch, Sie machen auch Werbe- und Industriefilme. Die Differenz zu Picco könnte kaum größer sein. Wie haben Sie sich in diese komplett andere Welt eingearbeitet?
Philip Koch: Mein Hauptarbeitsfeld sehe ich beim Spielfilm. Für „Picco“ habe ich über ein Jahr recherchiert, habe Gefängnisse besucht, mit Justizvollzugsbeamten, Psychologen, JVA-Leitern und Häftlingen gesprochen. Und sehr viel gelesen. Das war notwendig, um die Wirklichkeit so authentisch wie möglich abzubilden – also das exakte Gegenteil von Werbung.
Im wahren Fall berücksichtigte das Gericht unter anderem die gruppendynamischen Prozesse, die zur Tat führten. Sie beschreiben diese Dynamik viel detaillierter als die physische Gewalt ...
Die Gruppendynamik, die in so einem hermetischen System zu einer derartigen Explosion psychophysischer Gewalt führt, ist viel aufschlussreicher für die allgemeine menschliche Natur als der eigentliche Exzess: Die ersten 70 Minuten im Film zeigen eine Spirale von Mobbing und Unterdrückung, wie sie überall vorkommt – Schule, Arbeitsplatz, Familie. Nur, dass dort irgendwann eine moralische Instanz „Stopp“ sagt. Nicht so im Jugendgefängnis. Das ist die eigentliche Provokation des Films: Das Ende von „Picco“ zeigt die logische Fortführung eines zutiefst menschlichen, allgegenwärtigen Überlebenskampfes.
Die Farbscala der Bilder ist sehr begrenzt – fast monochrom, die Kameraeinstellungen sehr statisch. Können Sie das visuelle Konzept kurz erläutern?
Ich wollte mit einer extremen Statik und langen Einstellungen einen größtmöglichen Kontrast zur unbändigen jugendlichen Energie der Figuren schaffen, die den wohl trostlosesten Ort Deutschlands ihr gegenwärtiges Zuhause nennen müssen. Der Zuschauer selbst soll zum fünften Insassen von Zelle 10 werden – 104 Minuten lang.
Nicht nur durch die visuelle Gestaltung entfaltet der Film eine klaustrophobische Atmosphäre von Repression und latenter Gewalt. Wie war das für das junge Team und vor allem die Darsteller auszuhalten?
Dank eines großartigen Teams war die Atmosphäre am Set von großer Wärme geprägt. Aber man kann sich der negativen Energie dieses Ortes nicht entziehen – es kam u.a. zu einer Massenschlägerei. Es verlief aber zum Glück glimpflich. Es gab nur eine einzige Festnahme.
Bei dem Thema ist die Gefahr des Voyeurismus groß. Auf welche Art haben Sie sich diesem Problem gestellt?
Indem wir Gewalt immer nur dann zeigen, wenn sie erzählerisch für die charakterliche Entwicklung der Hauptfigur und für die Geschichte relevant ist. Voyeurismus fängt an, wenn die erzählerische Notwendigkeit nicht mehr gegeben ist.
Arbeiten Sie bereits an einem neuen Kinoprojekt?
An dreien sogar: Eines spielt in der Wüste, eines handelt von Heroin, und eines spielt im Dritten Reich.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Die Geschichte ist jetzt unfassbar aktuell“
Regisseur Andreas Dresen über „In Liebe, Eure Hilde“ – Gespräch zum Film 10/24
„Es geht um Geld, Gerechtigkeit und Gemeinschaft“
Regisseurin Natja Brunckhorst über „Zwei zu eins“ – Gespräch zum Film 07/24
„Alles ist heute deutlich komplizierter geworden“
Julien Hervé über „Oh la la – Wer ahnt denn sowas?“ – Gespräch zum Film 03/24
„Versagen ist etwas sehr Schönes“
Regisseur Taika Waititi über „Next Goal Wins“ – Gespräch zum Film 01/24
„Ich muss an das glauben, was ich filme“
Denis Imbert über „Auf dem Weg“ – Gespräch zum Film 12/23
„Ich hatte bei diesem Film enorm viel Glück“
Tarik Saleh über „Die Kairo Verschwörung“ – Gespräch zum Film 04/23
„Ich wollte das damalige Leben erfahrbar machen“
Maggie Peren über „Der Passfälscher“ – Gespräch zum Film 10/22
„Ich wollte das Geheimnis seiner Kunst ergründen“
Regina Schilling über „Igor Levit – No Fear“ – Gespräch zum Film 10/22
„Migration wird uns noch lange beschäftigen“
Louis-Julien Petit über „Die Küchenbrigade“ – Gespräch zum Film 09/22
„Die Wüste ist ein dritter Charakter im Film“
Stefan Sarazin über „Nicht ganz koscher – Eine göttliche Komödie“ – Gespräch zum Film 08/22
„Diese Generationenkonflikte kennen viele“
Katharina Marie Schubert über „Das Mädchen mit den goldenen Händen“ – Gespräch zum Film 02/22
„In der Geschichte geht es um Machtverhältnisse“
Bettina Oberli über „Wanda, mein Wunder“ – Gespräch zum Film 01/22
„Wir wollten kein langweiliges Biopic machen“
Regisseur Andreas Kleinert über „Lieber Thomas“ – Gespräch zum Film 11/21
„Gustave Eiffel war seiner Zeit voraus“
Martin Bourboulon über „Eiffel in Love“ – Gespräch zum Film 11/21
„Richtiges Thema zur richtigen Zeit“
Sönke Wortmann über „Contra“ – Gespräch zum Film 10/21
„Wie spricht man mit einem Kind über den Tod?“
Uberto Pasolini über „Nowhere Special“ – Gespräch zum Film 10/21
„Seine Kreativität lag lange im Verborgenen“
Sonia Liza Kenterman über „Der Hochzeitsschneider von Athen“ – Gespräch zum Film 09/21
„Du denkst, die Erde bebt“
Regisseurin Anne Zohra Berrached über „Die Welt wird eine andere sein“ – Gespräch zum Film 08/21
„Ich würde so gerne gehen. Aber ich weiß nicht, wohin.“
Produzentin Bettina Wente über „Nahschuss“ – Gespräch zum Film 08/21
„Es geht bei Fassbinder um Machtstrukturen“
Oskar Roehler über „Enfant Terrible“ – Gespräch zum Film 10/20
„Familienfilm mit politischer Haltung“
Dani Levy über „Die Känguru-Chroniken“ – Gespräch zum Film 03/20
„Nicht alles erklären“
Patrick Vollrath über „7500“ – Gespräch zum Film 01/20
„Corinna Harfouch ist eine Klasse für sich“
Jan-Ole Gerster über „Lara“ – Gespräch zum Film 11/19
„Der Film brauchte eine Bildgewalt“
Christian Schwochow über „Deutschstunde“ – Gespräch zum Film 10/19
„Das Thema war in der DDR absolut tabu“
Bernd Böhlich über „Und der Zukunft zugewandt“ – Gespräch zum Film 09/19