Köln besitzt nicht nur ein Herz für den Karneval, auch Fettnäpfchen liebt der Kölner. Er lässt keines aus. Jetzt hat er eine bisher intensiv gelobte und rein positiv besetzte Nischenkultur beschmutzt: die Neue Musik. Galt das Publikum besonders in der Kölner Philharmonie bisher als sehr begeisterungsfähig, spontan und emotional, so brachen ihm nun vielleicht genau diese Tugenden den Hals. Die Konzertgäste begannen während der Aufführung eines modernen Musikstücks mit Johlen, Lachen, Buhs und allerlei Geräusch, den ausübenden Musiker (der international anerkannte Cembalisten Mahan Esfahani aus dem Iran) akustisch derart zu behelligen, dass der Interpret den Vortrag abbrechen musste. „Wovor haben Sie Angst?“, fragte der ratlose Tastenspieler auf Englisch das aufgebrachte Publikum.
Da war wohl einiges schiefgelaufen, fast so schief wie die dann folgenden Reaktionen. Hetze und braune Gesinnung wurden eilig im Netz unterstellt, ganz Deutschland stürzte sich auf die neuerliche Schlappe in Fragen von Toleranz; Verfall der Sitten und zunehmende Verrohung der Gesellschaft wurden verantwortlich gemacht. Die Political Correctness kotze sich durch die Gazetten, alle waren entrüstet und ratlos wie nach dem Einsturz des Stadtarchivs. Eine Kölner Tageszeitung brachte sogar eine nachträgliche Einführung in das Corpus delicti, in Werk und Kompositionsstil des Minimal-Komponisten Steve Reich. Wahnsinn.
Was die Entrüsteten wissen sollten: Konzertbesucher suchen Termine immer häufiger nach bequemen Zeiten aus. Ein Sonntagsnachmittags-Konzert wie dieses wirkt wie ein Magnet auf ältere Menschen, die nach einem Mittagessen oder Kaffee und Kuchen mit der Familie ein Konzerterlebnis suchen; und vielleicht noch im Hellen nach Hause kommen können. Gerade die unerfahrenen Neuhörer kennen außer den wenigen Säulenmusikern der Geschichte keine Komponisten, haben keine Orientierung und vermuten in einem Konzert mit dem auftretenden Namen Bach ein „normales“ Konzert. Vor dem „Skandalstück“ lief aber bereits ein ebenfalls mit Minimaltechnik geladenes Cembalo-Konzert, für Neuhörer ein echter Horror, und das Stück eines amerikanischen Avantgardemusikers und Freejazzers. Plus der ausführlichen Einführung durch den Solisten in englischer Sprache ergibt dies für einen Unbedarften eine Folterstrecke, bei der das Fass dann einfach überlaufen kann – aber eigentlich nicht darf. Das gebietet die Höflichkeit gegenüber einer Künstlerpersönlichkeit, von der der Laie allerdings auch nichts ahnt.
Empfohlen seien deshalb zur unbedingt befürworteten Unterbringung von zeitgenössischen Klängen oder Klassikern der Moderne im nicht speziell gekennzeichneten Konzertprogramm weiterhin die beliebten „Sandwich-Konzerte“, bei denen zwischen zwei Leckerchen aus dem klassischen bis romantischen Mainstream-Programm ein meist unbekannter oder für Kenner gefürchteter Name auftaucht. Manchmal sind genau diese Werke der Renner des Konzerts. Das Sandwich bestimmt allein im April acht Konzerte im Kölner Philharmonie-Programm. Dabei sollten die Veranstalter nur darauf achten, dass der Aufschnitt nicht zu dick geschnitten ist. Das war er wohl diesmal in Köln.
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