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In Massenets Opernadaption wird Charlotte zur eigentlichen Heldin des Dramas
Foto: Matthias Jung

Die Leiden der jungen Charlotte

28. November 2013

Jules Massenet Oper Werther – Opernzeit 12/13

In Goethes Briefroman stehen die Leiden des jungen Werther im Mittelpunkt, doch in Massenets Opernadaption wird Charlotte zur eigentlichen Heldin des Dramas.
„Werther! Ah! Tout est fini!“ – Wer hier vom Ende spricht, ist nicht Werther, sondern Charlotte, Liebende und Leidende. Sie bleibt am Ende einsam zurück. Der letzte Weg der Selbstbestimmung, der Freitod, bleibt ihr verwehrt.

Werther erscheint die Kleinbürgerwelt Wetzlars zunächst als Idyll, in der sein rastloses Wesen Ruhe findet. Den Anblick des Gartens von Charlottes Elternhaus erfährt er als ein mystisches Einswerden mit der Natur. Das Familienleben des Amtmanns, in dem Charlotte für ihre jüngeren Geschwister die Rolle der verstorbenen Mutter übernimmt, rührt Werther an – auch er sehnt sich nach Geborgenheit. Charlottes Wesen versetzt den in sich zerrissenen Künstler in einen Glücksrausch, die Seelenverwandtschaft mit ihr erlebt er als innere Befreiung.

Charlotte fühlt sich zu dem Außenseiter hingezogen, doch reagiert sie auf sein Liebesgeständnis mit der Zurückhaltung, die der bürgerliche Moralkodex ihr als unverheiratete Frau vorschreibt. Zudem bindet sie ein Eid, den die Mutter ihr auf dem Totenbett abverlangte: Albert soll ihr zukünftiger Ehemann sein. Dieses Gelübde, das sich in Goethes Briefroman nicht findet, löst Charlottes Konflikt zwischen Pflicht und Neigung aus. Werthers Hymne auf Charlotte als „ange du devoir“ (Engel der Pflicht) zu Beginn der Oper verkehrt sich im weiteren Verlauf in das Gegenteil: Charlotte wird zum Opfer ihrer Pflicht, ihre Liebe zu Werther empfindet sie als Sünde. Sie verbietet sich ihre Gefühle für ihn, heiratet Albert und fügt sich der bürgerlichen Norm: Ihre Liebe auszuleben hieße an der gesellschaftlichen Ächtung zu zerbrechen. Sie schickt Werther fort, um Abstand zu gewinnen, doch seine Abwesenheit verstärkt ihre Sehnsucht nach ihm. Weihnachten kehrt er wie vereinbart zurück. Als sie ihn erneut zurückweist, begeht er Selbstmord, erst jetzt kann sie ihm ihre Gefühle gestehen.

Charlottes Ehemann ist bei Goethe ein aus dem Geist der Aufklärung handelnder Mann, doch bei Massenet wird er zu einem eindeutig negativen Charakter mit sadistischen Zügen. Während Albert in der Romanvorlage einem Boten die von Werther erbetenen Pistolen ahnungslos übergibt, verlangt er in der Oper Charlotte ab, die Waffen dem Boten zu überreichen, im Wissen, dass sich Werther damit umbringen wird. Sie eilt zu ihm und wird Zeugin seines Sterbens. Charlotte ist somit die eigentlich Leidtragende: Werther stirbt in der Gewissheit, von Charlotte geliebt zu werden, Charlotte überlebt in der Gewissheit, ihr Lebensglück verloren zu haben.

Die eigentliche Tragödie liegt in Charlottes Zukunft: sie muss sich den bürgerlichen Verhältnissen fügen und das Unglück ihrer Ehe mit Albert ertragen. Das ist der entscheidende Perspektivenwechsel, den Massenet und seine Librettisten mit ihrer Oper 1892 vollziehen, über hundert Jahre nach der Erstausgabe von Goethes Roman im Jahr 1774.

Massenets Komposition zeichnet sich durch eine stilistische Vielfalt aus, die der Charakterisierung der Figuren und der Zuspitzung der dramatischen Handlung dient: Geschlossene Formen und Accompagnati finden sich in den Genreszenen Wetzlars, wohingegen die groß angelegte symphonische Entwicklung von Erinnerungs- und Leitmotiven die Gefühlswelt Werthers nachzeichnet. Die innere Entwicklung Charlottes von der unbedarften jungen Frau zur tragisch Liebenden spiegelt sich in der komplexer werdenden musikalischen Strukturen wider: In der ersten Begegnung mit Werther prägt ihre Partie noch eine einfache Liedmelodik, im zweiten Duett begleiten elegische Orchestermotive ihren Part, später bekennt sie in emphatisch drängenden Sequenzen ihre Liebe, am Ende steht ihr großer Ausbruch, dazu erklingt im Orchester das zentrale Leitmotiv in einer chromatischen Fassung, die Charlottes Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck bringt.

Das Zeitalter der Romantik ist endgültig vorbei, sonst wäre Charlotte tot an der Seite Werthers zusammen gebrochen.

„Werther“ | 30.11./3./5./11./13./25./28.12. | Aalto-Theater Essen

Kerstin Maria Pöhler

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