Gefühle zu beschreiben, gehört zu den schwierigsten Aufgaben der Literatur. Dem Tanz hingegen stehen keine Worte zur Verfügung, aber die Sprache der Körper kann Gefühle auf eine tiefgreifende Weise erlebbar machen. Barbara Fuchs arrangiert Versuchsanordnungen in ihrem dreiteiligen Produktionszyklus, der den Titel „Ge-fühl-los“ trägt. Im ersten Teil „Moodswing“ richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Beziehung von Körper und Sound. Schon damals rückte das Thema Intimität hörbar in den Vordergrund. Nun zeigt sie mit dem zweiten Teil „+-“ eine sehr komplexe Produktion, in der das Publikum aufgefordert wird, sich in Zustände von Langeweile, Demut oder Scham einzufühlen. Enblößung spielt hier eine zentrale Rolle, und das nicht nur für die Tänzer.
Wenn sich Darsteller auf der Bühne entkleiden, dann erzeugt die Nacktheit eine Atmosphäre der Beklemmung im Saal. Ziehen sie sich wieder an und wiederholen diesen Vorgang ein ums andere Mal, dann verliert sich die Intimität und ihre Aktion wird zu einer Choreographie. In der neuen Produktion „+-“ von Barbara Fuchs im Tanzraum von Barnes Crossing entkleiden sich Odile Foehl, Regina Rossi, Ursula Nill und Pietro Micci auf diese Weise. Die Spannung zwischen privatem und öffentlichen Moment senkt sich kontinuierlich. Der Sound von Jörg Ritzenhoff lädt die Szene hingegen akustisch auf. Das Spiel der Ladung zwischen den emotionalen Polen von plus und minus betreibt Barbara Fuchs mit überraschenden Wendungen in dieser zweiten Choreographie von “Ge-fühl-los“.
Ursula Nill präsentiert sie mit hochgerutschtem Röckchen wie eine aufreizende junge Muse von Balthus. Die knisternde Erotik kontert sie dann mit einem Lachen, wenn zum Gruppenbild alle Beteiligten die Zunge aus dem Mund strecken. Affekte werden aufgebaut und zugleich in Distanz gerückt. Das geht soweit, dass sich die vier treten und schlagen, auch ins Gesicht, und doch brennen niemandem die Sicherungen durch, das Spiel bleibt eine kalkulierte Zurschaustellung der Emotion. Das Bühnenbild mit schwarzweißen Kreisformationen erinnert an eine abstrakte Darstellung des Gehirns und seziert wird hier durchaus, allerdings nicht mit dem Skalpell, sondern mit sprachlichen Wendungen, die sich tief in das Forschungsgebiet der Neurologen hineinbohren.
So aufmerksam, wie Barbara Fuchs jeden Anflug von Sentimentalität vermeidet, so wenig geht sie in die Falle eines kalten Formalismus, Humor schließt sie bei ihren Versuchanaordnugen nicht aus. Die Körper verschlingen sich ineinander, die Attraktivität der Tänzerinnen wird bewusst ausgespielt, und doch betont Barbara Fuchs stets die Blickdistanz. Sie findet treffende Bilder für das Intime und sie dosiert ihre Choreographie streng auf die Funktionen ihres Sujets, hier mit großer künstlerischer Ökonimie zu Werke gegangen und zugleich entsteht eine kompakte, erlebnissatte Produktion. Vielleicht die beste Arbeit, die dieser erfahrenen Choreographin bisher gelungen ist.
„+-“ von Barbara Fuchs | Nächste Vorstellung 10. Nov. 20 Uhr | Barnes Crossing | Industriestrasse 170.
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