Michael Glawogger, Jahrgang '59, dreht seit den 90er Jahren Dokumentarfilme wie Spielfilme, Komödien wie Dramen, darunter die Dokus „Megacities“, „Workingman's Death“ und die Spielfilme „Das Vaterspiel“ und „Contact High“.
engels: Die Gefahr des Voyeurismus liegt bei dem Thema nahe. Was waren ihre Vorsätze, um dem zu entgehen?
Michael Glawogger: Solche Fragen stelle ich mir nicht. Ich denke, man darf bei der Arbeit an einem Film nur daran denken, was man wie zeigen will und nicht, was man vermeiden will, weil irgendjemand denken könnte, es wäre Voyeurismus oder sonst etwas.
Sie erfahren viel Intimes von den Frauen. Wie kamen sie so nah an die Frauen heran?
Indem ich mich für sie und ihr Leben interessiert habe und zwar über das Thema der Prostitution hinaus. Es war mir wichtig ihren Alltag zu verstehen, ihre Sehnsüchte und ihre ganz normalen Befindlichkeiten. Vertrauen entsteht nur, wenn man gemeinsam Zeit verbringt, die über die reine Arbeit an einem Film hinausgeht. Zum Beispiel hätte ich nie von dem Ort erfahren, an dem in Thailand die Mädchen zu den Animateuren gehen, wenn wir nicht gemeinsam am Abend ausgegangen wären. Es ist eigentlich einfach. Man befreundet sich und dann vertraut man einander auch.
Die Dramaturgie vollzieht einen langsamen Abstieg immer weiter ins Elend. War dieser Aufbau von Anfang an geplant?
Das sehe ich nicht so. Elend ist eine Frage der Perspektive. Als ich den mexikanischen Prostituierten den Film gezeigt habe, empfanden sie Thailand als den schrecklichsten Ort, weil dort die Frauen in einem Glaskasten arbeiten müssen. Ich empfinde die Frauen in Mexiko als stark, selbstbewusst und intelligent. Die „Zona de la Tolerancia“ mag zwar ein wenig rau erscheinen, aber Elend sieht anders aus.
Wir sehen im Film nur weit entfernte, von hier aus betrachtet exotische Orte in sogenannte Schwellenstaaten und Entwicklungsländern. Warum haben Sie nicht auch in Europa gedreht?
Das stimmt nicht. Thailand und Mexiko sind keine Entwicklungsländer im klassischen Sinn. Bangkok selbst kann man durchaus als erste Welt bezeichnen und das Bordell dort als gehobene Mittelklasse. Ich weiß nicht woher diese Obsession kommt, dass es zu einem Thema mehr erzählen würde, wenn man auch in Europa dreht. Für mich ist es wichtig, einem Thema gerecht zu werden und da waren diese drei Orte, die drei Religionen, drei kulturelle Umgebungen und drei verschiedene soziale Gegebenheiten repräsentieren, die aussagekräftigsten. Und glauben Sie mir, ein Bordell in Wien, Dresden oder Finnland kann genauso exotisch wirken wie eines in Mexiko.
Der Musikeinsatz orientiert sich mit westlicher Popmusik nicht an den Gegebenheiten der porträtierten Frauen. Dieser Clash könnte mitunter wie ein Video-Clip zur Prostitution wirken … Wie sehen Sie das?
Ach, diese Frage macht mich traurig. Niemals würde jemand fragen warum haben sie denn in einer gegebenen Szene keine Musik verwendet? Die Szene wirkt so nackt und falsch ohne Musik. Film ist immer Gestaltung – auch in der Auslassung. Ich versuche, mit Musik den Szenen den richtigen, authentischen Ton zu geben. Und es ist ja schließlich ein Film aus meiner Sicht, wenn auch in Zwiesprache mit den Frauen, und oft weht auch ihre Musik durch die Gänge. Wie kalt und falsch wäre ein Film über Prostitution ohne Musik. Musik ist in den langen Momenten des Wartens so wichtig in diesem Beruf.
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