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Der weise Mann vom Ende des Zuges: John Hurt in „Snowpiercer“.

„Früher hatte man mehr Spaß im Filmgeschäft“

27. März 2014

John Hurt über „Snowpiercer“, das Science-Fiction-Genre und seine zahlreichen Filmtode - Roter Teppich 04/14

Seit mehr als 50 Jahren steht der Engländer John Hurt vor der Kamera. Unter seinen rund 200 Film- und Fernsehrollen finden sich etliche Klassiker, z.B. „Alien“, „Der Elefantenmensch“, „12 Uhr nachts“, „Dead Man“ oder „Hellboy“. In Bong Joon-hos neuem Film „Snowpiercer“, einer Dystopie über das Ende der Menschheit, die komplett in einem Zug angesiedelt ist, spielt Hurt nun auf der Leinwand einen weisen alten Revolutionsführer.

engels: Mr. Hurt, wie sind Sie zu „Snowpiercer“ dazugekommen, war das schon in einem frühen Produktionsstadium?

John Hurt: Es war schon in einer recht frühen Phase, ja. Ich habe die Koreaner in London getroffen und mochte sie vom ersten Moment an. Sie sind einfach wundervoll. Intelligent, höflich, einfach außergewöhnlich. Die Höflichkeit ist auch keine solch oberflächliche, wie man sie aus Los Angeles gewohnt ist. Sie ist wirklich tief empfunden. Ich hatte zuvor Bongs großen Filmerfolg „Mother“ gesehen, aber seine anderen Filme kenne ich nach wie vor nicht. Die muss ich noch nachholen, auch andere koreanische oder asiatische Filme möchte ich noch sehen, da ich mich in diesem Bereich noch viel zu wenig auskenne.

Sie haben Bongs Arbeit mit der eines Malers verglichen, und auch Sie selbst sind Hobby-Maler. Wie kommen Sie auf den Vergleich?

Der Look seiner Filme hat eine sehr malerische Komponente. Auch sein Make-up-Künstler ging sehr malerisch vor. Das Schminken ging zwar sehr schnell vonstatten, aber das Ergebnis war außergewöhnlich. Dass Bong so ein enges Arbeitsverhältnis mit seinem Kameramann hat, unterstreicht diesen Eindruck.

Es wird schon wild darüber diskutiert, dass der amerikanische Verleiher Harvey Weinstein große Teile aus „Snowpiercer“ für den US-Vertrieb herausschneiden möchte…

Die Diskussion hat sich mittlerweile erübrigt, es wird keine Schnitte am Film für die US-Verwertung geben. Wir hoffen, dass „Snowpiercer“ unterhaltsam ist, aber nicht nur; der Film ist mehr als das, er hat auch Ecken und Kanten. Diese wollte Harvey eigentlich entfernen, da bin ich mir ziemlich sicher. Viel hätte man am Film aber ohnehin nicht schneiden können, weil es keine einzige überflüssige Szene gibt. Bong Joon-ho dreht nur das, was er am Ende auf der Leinwand sehen möchte. Da gibt es einen Riesenunterschied zu einem amerikanischen Studiofilm und der Menge an Material, die heutzutage dort geschossen wird. Seit alles digital ist, gibt es keine Begrenzung mehr, man dreht, bis die Schauspieler zu Tode gelangweilt sind. Aber Bong filmt nur, was er sehen will. Das ist zum einen natürlich extrem gefährlich, und zum anderen, auch sehr schwierig zu realisieren. Er muss alles im Kopf haben und den Film auch schon im Kopf schneiden. Aber Bong Joon-ho ist dazu perfekt in der Lage.

Also waren die Dreharbeiten von „Snowpiercer“ komplett anders als die von „Hercules“, der ebenfalls bald anlaufen wird und an dem Sie mitgewirkt haben?

Ich habe noch nie an einem Film mitgewirkt, bei dem so viel Material gedreht wurde wie bei „Hercules“. Und dabei durfte man sich noch nicht einmal bewegen. Ich wurde aus diesem Blickwinkel gefilmt, dann aus dem, dann aus dem, dann von unter den Füßen, dann aus dieser Ecke, dann aus jener, bis man sich zu Tode gelangweilt hat.

Hegen Sie selbst Sympathien für revolutionäre Ideen – mir erscheint es jedenfalls nahe liegend, dass Sie im Film in der Rolle des Gilliam und nicht als Wilford besetzt wurden…

Ja, ich denke schon. Zu Beginn wollte mir Bong sogar die Wahl überlassen, welche der beiden Rollen ich spielen soll. Wilford fand ich gar nicht so uninteressant, aber Bong fand wohl doch, dass ich besser in die Rolle Gilliams passe. Gilliam war einmal revolutionär, aber ich bin mir nicht so sicher, ob er das zum Zeitpunkt, als der Film spielt, noch ist. Vielleicht. Aber er war sicherlich einmal ein Extremist, ob ein revolutionärer oder nicht, kann man nicht so einfach beantworten. Wie sich das Leben im Zug entwickelt hat, ist gleichermaßen schwer zu beantworten, weil man immer nur Informationsfetzen bekommt und man sich das nicht so ohne weiteres zusammenreimen kann. Aber das ist ja das Spannende: Genau wie beim Leben selbst, weiß man nicht so genau, wie alles begonnen hat und wie sich alles fügte.

Es gibt ja viele Bibelzitate im Film – der Zug könnte eine Art Arche für die Menschheit sein, oder eine Metapher für die Existenzkämpfe des Lebens selbst…

Ja, all das stimmt. Die Autoren der Comicvorlage haben all diese Elemente bewusst eingesetzt. Es versteht sich von selbst, dass die Vorlage französisch ist (lacht). Das Ganze ist eine sehr französische Geschichte mit etlichen intellektuellen Spielereien.

Haben Sie nach etwas Neuem gesucht, als Sie sich entschlossen haben, einmal einen koreanischen Film zu drehen?

Oh nein, ich würde nicht sagen, dass ich die Rolle bewusst gefunden habe. Ich habe auch gar nicht danach gesucht, es war eher ein Zufall, dass ich sie bekommen habe.

Versuchen Sie also nicht, in Ihrer Arbeit bewusst neuen Trends nachzuspüren, wie nun bei Ihren Auftritten in der Kultserie „Doctor Who“?

Oh Gott (lacht). Ich hätte nie geahnt, dass das so eine große Sache ist! Ich wusste zwar, dass „Doctor Who“ Kult ist, aber ich hatte nicht die leiseste Ahnung, dass die Serie Mainstreamunterhaltung ist. Die Fanbasis dieser Serie ist wirklich gewaltig.

Snowpiercer“ ist ein Science-Fiction-Film mit einer Botschaft. Sie waren auch zuvor schon eine zentrale Figur im Science-Fiction- und Fantasy-Genre, von „Alien“ bis hin zur „Harry Potter“-Reihe. Was halten Sie generell von diesen Filmen?

Ich bin für jedes Genre aufgeschlossen. Ich bin ein Schauspieler und mache die unterschiedlichsten Sachen, die mich interessieren. Gary Oldman ist ein guter Freund von mir und wir haben darüber schon so manches Mal gesprochen. Er arbeitet auf eine ganz ähnliche Weise, wobei er dabei einen viel kommerzielleren Weg geht – oder zumindest mehr Geld verdient als ich (lacht). Das Genre ist mir egal, aber meine Lieblingsrollen gehören nicht unbedingt dem Science-Fiction-Genre an. Es macht nicht so viel Spaß, sie zu drehen, weil dabei immer so viele Spielsachen zum Einsatz kommen. Regisseuren, die gerne mit solchen Spielsachen arbeiten, machen Science-Fiction-Filme Spaß, wie beispielsweise Ridley Scott. Als Schauspieler muss man meist sehr lange herumstehen und warten, und wenn man die Szenen dann spielt, sind sie meist nicht sonderlich interessant.

Sie haben in „1984“ Winston Smith gespielt, auch „Snowpiercer“ ist eine Art Dystopie. Würden Sie aus Ihrer Lebenserfahrung heraus sagen, dass die Welt besser geworden ist oder dass es durchaus berechtigt ist, sich die Zukunft so düster auszumalen?

Wie bei allem ist es gefährlich, die Dinge nur schwarz-weiß oder auf eine so vereinfachende Weise zu betrachten. Alles, was einem schrecklich vorkommt, hat zumeist auch eine ganz wunderbare Seite. Es ist sehr schwer vorauszusehen, wo sich die Menschheit in 20 bis 50 Jahren befinden wird. Es gibt Momente, in denen man denkt, dass es im Laufe der Zeit immer schlechter geworden ist. Und dann gibt es Augenblicke, in denen man denkt, dass der menschliche Fortschritt wunderbare Blüten hervorgebracht hat. Das Thema ist zu komplex, um es auf solch vereinfachende Weise zu betrachten.

Wissen Sie, wie oft Sie auf der Leinwand schon gestorben sind?

Ich glaube, ich bin der Rekordhalter! Ich kenne jemanden, der alle meine Leinwandtode in einem Video zusammengeschnitten hat, das man sich im Internet anschauen kann (lacht). Irgendwann bin ich mit meinen Kindern in eine Phase eingetreten, in der sie mich nicht mehr fragten, ob ich in meinem nächsten Film sterben werde, sondern wie ich sterben werde (lacht).

Hat sich das Filmgeschäft seit den 70er/80er Jahren Ihrer Meinung nach verändert?

Ja, das hat es. Damals hatte man mehr Spaß im Filmgeschäft. Man hat nicht so viel über die Arbeit gesprochen. Ich bin vielleicht etwas altmodisch, aber ich spreche noch immer davon, dass ich eine Rolle spiele – für mich ist das keine Arbeit. Der einzige Aspekt der Arbeit ist vielleicht das Lernen des Textes. Aber insbesondere beim Film muss man sich nicht extra hinsetzen und Text büffeln. Wenn man sich seine Zeilen immer wieder anschaut, während man die Szenen durchspricht und vorbereitet, kann man seinen Text irgendwann schon von alleine.

INTERVIEW:Frank Brenner

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