Tanz im 20. Jahrhundert, das ist nicht mehr alleine die Freude an der schönen Bewegung. Spätestens seit Nijinski das Skandal-Ballett zu Igor Strawinkys „Le Sacre du Printemps“ choreographierte, war der Tanz zu einer Angelegenheit auf Leben und Tod geworden. Man delektierte sich nicht mehr an beschwingter Grazie, die schwerelos in den Himmel hinein trippelt, sondern die Tänzer begannen sich zu entkleiden, stellten einen nackten, in seiner Kreatürlichkeit schwerfällig wirkenden Körper aus. Und doch gibt es sie bis heute, jene flüssig getanzten Schrittfolgen, die so dahinperlen und im Parkett schnell mit einem gutmütigen Gähnen beantwortet werden. Das sind oftmals genau jene Momente, in denen Choreographen ihre Tänzer während der Proben zur Improvisation ermutigt haben. Hier oder dort fehlt in einer Produktion noch etwas Material, das stopfen die Tänzer dann schnell mit ein paar improvisierten Figuren. In der fertigen Inszenierung sind das dann jene Situationen, in denen ein Stück spürbar an Substanz verliert.
„Für das Auge ist dann nur wenig Entwicklung zu sehen. Es ist wie bei einer Waschmaschine, die sich dreht, kleine Überraschungen produziert, aber keine Veränderungen bietet“, erklärt Massimo Gerardi, Choreograph von movingtheatre.de und Dozent an der Palucca Hochschule für Tanz in Dresden. „Wenn man Tänzer zur Improvisation auffordert, zeigen sie das, was sie gut beherrschen, ihre Spezialitäten sozusagen“, meint Gerardi. Und tatsächlich wirken improvisierte Passagen oftmals besonders harmonisch. „Das sieht im Grunde immer gut aus, weil es den eigenen Bewegungen folgt“, und die Logik der Bewegung wirkt denn auch für das Publikum zwingend. Nur die Dramatik und das eigentliche Überraschungsmoment vermögen sich nicht mehr einzustellen.
„Dass heute so oft improvisiert wird, hängt auch mit den Produktionsbedingungen zusammen“, erklärt Gerardi, „aufgrund der niedrigen Budgets kann man die Tänzer nur für kurze Probenzeiten zusammenführen. Improvisiertes Material kann schnell produziert werden, während eine Choreographie, die nach einem genauen Plan konzipiert ist, zeitaufwändiger ist.“ So werden Zeitgeist und Moden in kurzatmigen Probenphasen von manchen Choreographen auch favorisiert. Produktionsprobleme ziehen ästhetische Konventionen nach, die die den Tänzern jedoch Sicherheit bieten und dem Publikum Vertrautes servieren.
Dabei kann in der Improvisation auch die Geburtsstunde des Neuen liegen. So stellt Jess Curtis, Performance-Künstler und Choreograph aus Kalifornien, die Gegenfrage, indem er überlegt „Wann improvisiere ich eigentlich nicht?“. Und er gibt sich selbst die Antwort: „wenn ich tot bin“. Für Curtis ist die Improvisation ein sehr bewusster Arbeitsprozess. „Ich überlege, wie sieht der nächste Schritt aus, und welcher Schritt muss darauf folgen“. So erzeugt er in seinen Choreographien eine Intensität, die auch dem Publikum eine hohe Konzentration abverlangt. Als Curtis in Deutschland sein „Symmetry-Project“ vorstellte – eine Choreographie, die er gemeinsam mit der Italienerin Maria Francesca Scaroni vollkommen nackt tanzte – schien die Atmosphäre im Tanzstudio zum Schneiden verdichtet. Spontaneität hatte sich verwandelt in einen äußersten Grad an Aufmerksamkeit, jeder Bewegung der Körper war die gedankliche Operation anzusehen, mit der sie korrespondierte. Auf einmal ist Improvisation kein gefällig anzuschauender Lückenfüller mehr, sondern die Lust am Experiment wird zur ästhetischen Herausforderung, an der das Publikum ebenso teilnimmt wie die Akteure auf der Bühne.
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