Mit seiner Titelrolle im Ballettfilm „Billy Elliot – I Will Dance“ wurde der Engländer Jamie Bell mit 14 Jahren zum Star. Es folgten Auftritte in so unterschiedlichen Filmen wie „Dear Wendy“, „King Kong“, „Jumper“, „Jane Eyre“, „Snowpiercer“ oder „Fantastic Four“. Nachdem er kürzlich als Elton Johns kongenialer Texter Bernie Taupin im Biopic „Rocketman“ brillierte, kann man Bell nun in einer weiteren biografischen Rolle erleben. In „Skin“, der am 3. Oktober in den Kinos startet, spielt er den ehemaligen Skinhead und Neonazi Bryon Widner, der aus der Szene aussteigen will.
engels: Mister Bell, empfanden Sie die Rolle als besonders schwierig?
Jamie Bell: Ich hatte zumindest das Gefühl, dass ich mich auf diese Rolle am meisten vorbereiten musste. Allein körperlich war sie auch sehr anspruchsvoll, denn ich musste mir Muskelmasse aufbauen und dann jeden Morgen durch den Prozess gehen, mir die falschen Tätowierungen und Applikationen an der Nase und an den Zähnen anbringen zu lassen. Deswegen dauerte es immer recht lange, bis wir mit dem eigentlichen Drehen beginnen konnten. Mit Regisseur Guy Nattiv hatte ich bereits sehr viel an meiner Rolle gearbeitet, noch bevor die Finanzierung für den Film stand. Danach habe ich mich mit dem echten Bryon Widner getroffen, und das alles hat sich schon zu einer großen Arbeitsbelastung hinsichtlich dieser Rolle addiert.
Wie war es denn, Bryon Widner zu treffen?
Hm, er ist ja in einem Zeugenschutzprogramm. Deswegen ist es immer etwas aufwändiger, ihn zu treffen. Ich habe mich vier Tage lang mit ihm in seiner Garage unterhalten, während er ungefähr dreitausend Zigaretten geraucht hat (lacht). Einmal sagte ich zu ihm, nachdem er gerade eine Schachtel Zigaretten geraucht hatte, „Das wird jetzt echt zu viel, kannst Du bitte die Garagentür öffnen?“ Aber das machte er nicht, weil er in einer enormen Angst lebt, dass ihn dann jemand erschießen könnte. Er ist panisch, dass sich irgendjemand an ihm rächen könnte, weswegen ich mich in seiner Umgebung auch nicht sonderlich sicher fühlte. Wenn man nicht wüsste, dass sein Gesicht früher von Tätowierungen übersät war, würde man höchstens kleine Hautverfärbungen ausmachen, die nicht weiter erwähnenswert sind. So lernte ich einen sehr wortgewandten, sehr höflichen und gastfreundlichen Mann mit sehr guten Manieren kennen, der sehr leidenschaftlich ist und in vielen Dingen sehr bewandert. Dann macht man sich schon Gedanken darüber, dass sein Leben völlig anders hätte verlaufen können, und fragt sich, was früher mit seiner Familie nicht gestimmt hat, in der es an männlichen Vorbildern gefehlt hat. Auch mein Leben wäre komplett anders verlaufen, wenn ich damals nicht in dem Tanzfilm („Billy Elliot – I will Dance“, die Red.) besetzt worden wäre. Das Leben kann einen an die unterschiedlichsten Orte führen. Bryon lebt mit einem ständigen Bedauern und mit Schuld, was ihn natürlich sehr bekümmert. Das ist die Bürde, mit der er nun sein Leben lang fertigwerden muss. Das musste ich aber alles wissen und empfinden, bevor ich diese Rolle spielen konnte.
Mit Ihrer Leinwandpartnerin Danielle Macdonald sind Sie einmal mit all den falschen Tätowierungen auch in die Öffentlichkeit gegangen. Wie war das?
Das war schon sehr interessant. Bryon hatte sich ja all die Tätowierungen ins Gesicht machen lassen, um die Leute in Angst und Schrecken zu versetzen, damit sich niemand mit ihm unterhält und ihm alle vom Leib bleiben. Ich hatte den Eindruck, wie wenn mich nicht besonders viele Menschen deswegen anstarren, sondern mich ganz bewusst ignorieren. Viele Menschen entscheiden sich in solch einer Situation, etwas bewusst nicht zur Kenntnis zu nehmen. Das ist eine sehr interessante menschliche Eigenschaft. Bryon war damals ein Mensch, der jegliche Interaktion mit anderen Menschen vermeiden wollte, er hätte sich genauso gut auch „Verpisst Euch“ auf seine Stirn tätowieren lassen können. Das wäre auf dasselbe hinausgelaufen.
Haben Sie selbst auch Tätowierungen?
Ja, ein paar. Aber meine sind entstanden zur Geburt meines Sohnes und so. Da ist nichts Ideologisches darunter.
Geht es in dem Film nicht auch um die dunklen Abgründe der menschlichen Psyche?
Bei allem, was Bryon tut, schwingt immer eine Distanziertheit mit. In ihm existiert ein moralisches Bewusstsein, es ist nur tot oder schläft zu dem Zeitpunkt, als wir ihn im Film kennenlernen. Er fühlt gar nichts, auch bei seinen ständigen Prügeleien nicht, denn er ist ja auch immer betrunken und in einem Zustand, in dem er einfach überhaupt nichts fühlen kann. Seine größte Angst in dieser Zeit besteht vermutlich darin, etwas zu fühlen. Er distanziert sich vom Leben, von der Gesellschaft, ja sogar von sich selbst. Er hat mir einmal gesagt, dass sich Skinheads den Kopf rasieren, damit sie nicht in den Spiegel schauen müssen, weil sie sich selbst so sehr hassen.
Man kann mit Ihrer Figur von Anfang an auch sympathisieren, weil man schnell erkennt, dass er auch eine menschliche Seite hat. War das notwendig, damit man nicht angewidert von allem ist?
Ja, der Film soll einen schon an die Grenzen dessen führen, was wir noch sympathisch finden, mit wem wir mitleiden können. Was ich an dem Film mag, ist die Großzügigkeit von Fremden, die sich dieser tragischen Person einfach angenommen haben. Sie haben sein Leben verändert. Das waren Menschen mit einem extrem großen Herzen, die Bryons Leben massiv umgekrempelt haben. Das sind für mich die wahren Helden des Films.
Glauben Sie, dass er sich selbst vergeben kann?
Nein, meiner Meinung nach kann er das definitiv nicht. Er bringt momentan seine Bildung voran, er bewirbt sich wieder an der Schule und möchte mit Menschen arbeiten, die den Absprung aus der Neonaziszene schaffen wollen. Er möchte durch Schulen touren und von seinen Erfahrungen berichten. Ich halte es für sehr nobel, dass er aus seinen Erfahrungen quasi Lernmaterial macht, um andere Menschen davor zu bewahren, auf den falschen Weg zu geraten. Gerade bei der Jugend ist das immens wichtig, da kann man nicht früh genug ansetzen, falsche Ansichten zu verändern. Diese Menschen brauchen in ihrem Leben positive Einflüsse. Es wäre toll, wenn es ihm gelingt, seinem Leben auf diese Weise wieder einen Sinn zu geben.
Sie sprachen davon, dass sich Bryon von seinen Gefühlen distanziert hat. Machen Sie das als Schauspieler nicht auch, nur aus anderen Beweggründen?
Ich denke schon, man muss sich wirklich auch von den eigenen Gefühlen distanzieren können. Andererseits gibt es aber auch Momente, in denen man besonders viel von sich persönlich in eine Rolle einbringt. Wenn man sich fragt, was wäre, wenn der eigene Sohn in eine solche Situation, in solch eine Gefahr geraten würde? Dann bringt man schon sehr viel von sich selbst in eine Rolle ein. Deswegen würde ich fast sagen, dass es nicht darum geht, immer weiter von sich selbst wegzulaufen, sondern sich immer mehr mit sich selbst zu beschäftigen. Das hat etwas Therapeutisches, bei dem man immer mehr aus sich selbst herausgeht und immer verletzlicher wird. So scheint das zumindest für mich zu funktionieren. Ich komme näher an Figuren heran, wenn ich tiefer in mich selbst vordringe.
Sie fühlten sich in Gefahr, als Sie Bryon trafen. Traf das auch auf die Dreharbeiten zu? Gab es irgendwelche Bedrohungen von Seiten der „White Supremacy“-Bewegung?
Nicht dass ich wüsste. Wenn es da irgendwelche Bedrohungen gegeben hätte, hätte mich das die Crew sicherlich nicht wissen lassen, weil ich dann wirklich durchgedreht wäre und den Film verlassen hätte. Das wäre mir zu heikel gewesen, denn das sind wirklich gefährliche Leute. Aber wir hatten uns in einem Hotel eingerichtet, in dem auch andere Menschen wohnten. Die kamen dann morgens in den Frühstücksraum und trafen dort auf eine Horde Neonazis mit Glatzen, und ich mit den ganzen Tätowierungen im Gesicht. Das war schon eine sehr absurde Situation.
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