Aus den Lautsprechern ertönt eine Stimme. An der Decke erspäht das Publikum einen zerstückelten Körper, dahinter ein grotesker Blutfleck. Ein monströses Fleischstück spricht nun zu ihm hinab: „Achtung! Mein Name ist Anna. Ich bin nur 28 Jahre jung geworden.“ Ein Gemurmel geht durch die Reihen. „Spielen wir heute Mord im Dunkeln?“ oder „Ist das Stephen Kings’ Carrie?“, fragen und witzeln die Zuschauer. „Nein, ich wünschte, es wäre ein Spiel. Eine Performance. Ich hatte auch keine Krankheit. Stattdessen bin ich in der Realität umgebracht worden“, antwortet Anna, über dem Publikum schwebend. „Aus Aggression. Nur, weil ich die Person nicht mehr lieben wollte, nicht mehr bereit war, ihr meinen Körper auszuliefern. Aus Wut.“
„Als nunmehr Tote spreche ich zu Euch Lebenden, weil mir dieses Thema am Herzen liegt, auch wenn meines nicht mehr schlägt. Falls die Verbindung schlecht wird, so liegt es nicht nur an der Distanz. Vielleicht ist der Grund auch der, dass Ihr mich nicht hören wollt. Wenn Ihr als Frau weiterleben wollt, dann hört mir besser gut zu: Im letzten Jahr wurde ich von meinem Ex-Freund auf gewaltsame, grausame Weise umgebracht. Mein Körper wurde zerstückelt. Passiert ist seither nicht viel. Totgeschwiegen wurde mein Tod, tabuisiert. Als Beziehungstat abgestempelt. Dabei impliziert das, dass man in der Liebe Besitzansprüche stellen darf.“
„Die Statistik gibt allerdings zu Denken: Immerhin bin ich eine von rund 120 Frauen, die jährlich in Deutschland von Intimpartnern ermordet werden. Alle drei Tage in einem vermeintlich modernen Land. Nicht etwa als ‚Hexe‘ im Mittelalter, auch wenn das ebenfalls schlimm wäre, sondern jetzt hier und heute“, antwortet Anna. „Seht Euch besser um, wer neben Euch sitzt. Ich wurde getötet, weil ich eine Frau bin. Sexistisch ist das, weshalb es in „Femizid“ umgetauft wurde.“
Totenstilles Publikum
„Bestimmt wieder ein lästiger Ehrenmord! Dieses patriarchale, zurückgebliebene Weltbild aus arabischen Kulturkreisen, das das Pack in unser freies, aufgeklärtes Land schleppt!“, raunzt AFD-Sympathisant Günther. „Da kann ich Sie als europäisches Mordopfer eines Anderen belehren: Mein einstiger Partner hieß Sascha und war Deutscher. Erst mimte er den netten Menschen von nebenan. Schließlich flogen bei einem Streit erst Worte, dann Gegenstände durch die Gegend, bevor er weitere Gewalt gegen mich ausübte. Als ich mit ihm Schluss machte, schlug mein damaliger Freund mit einer Axt auf mich ein. Traditionelle Rollenbilder, die Femizide begünstigen, existieren sehr wohl auch in Deutschland.“
„Ich kann nur sagen: Wenn Ihr als Frauen überleben wollt, seht hin! Sprecht darüber. Schweigt nicht! Geht nicht über weibliche Leichen!“, kontert die tote Anna, während sie nun Blut über den AFD-Sympathisanten ergießt, ihm zuflüsternd: „Möchtest Du spüren, wie es sich anfühlt, zerfleischt zu werden?“ Blutbesudelt und strauchelnd ertrinkt er beinahe, weshalb Günther nun wie ein Toter schweigt. Indessen formiert sich ein lauter werdender Totenchor. Darunter auch Barbara: „Ich wurde aus Eifersucht getötet, erschossen. Mein Mord wurde jedoch nicht mal als ein an einer weiblichen Person begangener vermerkt. Wisst Ihr auch, warum? Nur weil ich Transgender bin. Die Ungerechtigkeit ist mordsmäßig hoch.“ Das Publikum ist nun totenstill.
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