engels: Herr Hertel, wann und wie ist der Begriff „Femizid“ aufgekommen?
Roland Hertel: Der Begriff Femizid wurde erstmals um 2015 herum in Lateinamerika benutzt, als „Feminicidio“. Der Begriff wurde damals als hilfreiches Instrument begrüßt, um auf die alarmierende Eskalation von Gewalt an Frauen und Mädchen reagieren zu können. Laut der Definition werden darunter der Mord infolge einer Partnerschaft, Tötungen im Namen der „Ehre“, das gezielte Töten von Frauen und Mädchen in bewaffneten Konflikten und in Verbindung mit Banden- sowie organisierter Kriminalität zusammengefasst. Vor allem Letzteres ist in Lateinamerika ein großes Problem.
Wie grenzt sich Femizid zu ähnlichen Straftatbeständen ab?
Es gibt noch den Begriff des „Feminizid“, der eingeführt wurde, um das Element der Sprachlosigkeit, der institutionellen Gewalt, mangelnder Rechenschaftspflicht und mangelnder Antwort des Staates zu erfassen. Das erleben wir etwa in Afghanistan, Indien, Pakistan und Teilen der Türkei, wo männliche Gewalt dadurch legitimiert wird, dass sie einen kulturellen Hintergrund habe. Wenn wir über Deutschland sprechen, verwenden wir den Begriff hier auch, aber mein Spezialgebiet ist eigentlich der „Intimizid“, also Tötungen im Rahmen von Partnerschaften und Ex-Partnerschaften. Femizid umfasst also deutlich mehr, während Intimizid ganz konkret die Partnerschaftsgewalt meint.
„Männer töten, weil die Trennung für sie eine Bankrotterklärung ist“
Um welche Größenordnung geht es?
Wenn man es auf den Intimizid herunterbricht, zählt die PKS, die Statistik des Bundeskriminalamtes, für das Jahr 2018 in Deutschland 118 Frauen, die von ihren Partnern oder Ex-Partnerinnen getötet wurden – daneben gab es aber auch noch ca.220 Fälle von versuchter Tötung. Wenn wir von 118 Fällen im Hellfeld sprechen – also im Gegensatz zu den nicht registrierten Fällen im Dunkelfeld – dann ist das statistisch gesehen, auf Prozente oder Promille heruntergebrochen, ein marginal kleiner Bereich, aber jeder Fall ist für sich natürlich total tragisch.
Welche Gemeinsamkeiten kann man bei diesen Fällen beobachten?
Gerade in Deutschland ist sehr gut zu beobachten, dass es eine absolut heterogene Fallgruppe ist, dass es nicht auf Kultur, Glauben oder irgendetwas in der Art zurückzuführen ist. Es gibt eine sehr ausführliche Studie von Frau Professor Luise Greuel, einer Psychologin und die Rektorin der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Bremen, zum Thema Intimizide in Deutschland, genauer in NRW, deren Ergebnisse ich aus meinen Erfahrungen aus der Praxis nur bestätigen kann. Dabei hat Frau Greuel 17.991 Fälle von häuslicher Gewalt in NRW untersucht, unter denen es in 43 Fällen zu Tötungen kam – in 90 Prozent von Männern an ihren Frauen. Es scheint also vor allem ein Problem von uns Männern zu sein. Viele Männer töten, weil es für sie eine absolute Bankrotterklärung, eine Lebenskrise ist, wenn sich die Frau von ihnen trennt. Greuel spricht hier von einem „Lebensbankrott“, einer existenziellen Krise, einer psychischen Ausnahmesituation des Täters. In ihrer Studie benennt sie Eifersucht und Kontrolle als die häufigsten heutigen Konfliktfelder. In 42 Prozent der Fälle spielen Trennungsabsichten eine Rolle, in 37 Prozent Alkohol und/oder Drogen, wobei Drogen jedoch nie Auslöser, sondern nur ein enthemmender Faktor sind. Die große Gemeinsamkeit in dieser heterogenen Fallgruppe aber ist, dass es sich in 86 Prozent um etablierte Partnerschaften handelte, die über einen langen Zeitraum bestanden – in über 52 Prozent der Fälle zehn Jahre und länger. Männer töten nach Greuels Studie dann, wenn die Partnerschaft eine hohe emotionale Bedeutung und eine entsprechende Relevanz für ihr Selbstwertgefühl hat.
„Je körperlicher häusliche Gewalt ist, desto männlicher ist sie“
Es geht um Gewalttaten zwischen Personen, die sich in einem intimen Verhältnis nahestehen. Steht die geschlechtliche Identität bei der Tat dennoch im Vordergrund?
Mir ist es wichtig, nicht populistisch mit dem Thema umzugehen, aber man muss einfach zur Kenntnis nehmen: Femizide und Intimizide sind nicht kulturell oder religiös bedingt, sondern sind ein männliches Problem. 80 Prozent der Opfer von Partnerschaftsgewalt sind Frauen, nur 20 Prozent sind Männer. Und aus Untersuchungen kann man auch schließen: Je körperlicher häusliche Gewalt ist, desto männlicher ist sie auch. In meiner Praxis habe ich mit einer Kollegin zusammen in der Erstintervention 10.500 Fälle helfend begleitet und ich muss sagen, ich habe noch nie einen Mann so übel zugerichtet gesehen, wie manche Frauen zwei Tage nach der Tat. Ja, auch Frauen üben Gewalt aus, aber Gewalt ist nicht gleich Gewalt. Deswegen vergleichen Männerverbände Äpfel mit Birnen, wenn sie argumentieren: ja aber, die Frauen doch auch – wir sprechen hier von zwei von zehn Frauen gegenüber acht von zehn Männern, das ist einfach mal Fakt.
Welche Prozesse gehen der Tat voran?
Das ganz große Problem, wenn wir über Hochrisikofälle und die Tötung von Frauen sprechen, ist: Wir reden zu viel über das Thema Gewalt. Es geht nicht um die Eskalation von Gewalt, sondern um die Eskalation einer psychischen Krise, um Konfliktdynamik. Wir müssen den Blick darauf richten, in welcher Krisensituation sich die Menschen befinden. Auch in den Fällen, wo es im Trennungsfall zu Gewalt kommt, müssen wir von der Gewaltdiskussion weg und sehen: Was löst es aus, welche Verletzungen bringt der Mann mit? Wenn ein Mann eine Frau tötet, die sich von ihm trennen will, hängt es natürlich auch mit unseren Strukturen zusammen, mit den Machtphantasien, die wir immer noch haben, sei es durch Erziehung oder kulturell bedingt. Trennungen sind schlicht der Hochrisikofaktor, den man sehr genau beobachten muss. Und es gibt kritische Zeitfenster: In den ersten ein bis drei Trennungsmonaten gibt es ein erhöhtes Risiko für einen gewalttätigen Angriff, 90 Prozent der Gewalttaten geschehen in diesem Zeitraum.
„Intimizide gleichen eher Amoktaten als häuslicher Gewalt“
Zu Tötungsdelikten aber kommt es ganz überwiegend erst in einer späteren Phase der Trennung, nämlich im zweiten Trennungshalbjahr. Darum müssen wir von der ewigen Gewaltdiskussion weg. Greuel argumentiert, dass Intimizide in ihrer Psychodynamik eher Amoktaten gleichen als häuslicher Gewalt, denn es sind Prozesse zielgerichteter Gewalt: Die Täter wollen in diesem Moment zerstören. Oft werden diese Taten auch in Verbindung gesetzt mit dem sogenannten „erweiterten Suizid“ – ein Begriff, mit dem ich ein großes Problem habe, weil er meiner Meinung nach verharmlosend ist – wenn der Mann neben sich selbst auch wissentlich seine Kinder umbringt. Warum tut er das? Um der Frau den finalen Todesstoß zu versetzen. Denn wenn er sich dann selbst umbringt, überträgt er die ganze Schuld auf seine Partnerin.
Gibt es Warnsignale, die das Umfeld registrieren könnte?
Ein Problem bei Intimiziden ist, dass sie für den äußeren Betrachter meist aus heiterem Himmel passieren, dass im Hellfeld noch überhaupt nichts bekannt ist von der Geschichte. Das hängt auch damit zusammen, dass in häuslichen Beziehungen oft ein Deckel über Probleme gelegt wird. Es gibt allerdings Risikofaktoren, auf die wir mehr achten müssen, nämlich die Drohung.
Wenn bei Trennungen gedroht wird mit „ich bring dich um“, ist das eigentlich ein Signal, dass wir auch als Gesellschaft genauer hingucken müssen. Es ist laut Studien aus der ganzen Welt schlicht so, dass es nicht zwingend eine Gewalteskalation im Vorfeld eines Intimizids geben muss. Deswegen muss auch bei bislang gewaltfrei ausgetragenen Trennungskonflikten jede Drohung des Mannes ernst genommen werden, dafür müssen wir das Umfeld und auch die Betroffenen selbst entsprechend sensibilisieren. So kam es etwa in jedem dritten Fall im Vorfeld zu ausgedehntem Stalking, was sich erst im Nachhinein herausgestellt hat. Viele Frauen bemerken es nämlich gar nicht, wenn sie gestalkt werden.
„Jede Drohung des Mannes muss ernst genommen werden“
Welche Möglichkeiten des Einschreitens haben Polizei und andere Behörden? Welche Handhabe geben juristische Mittel?
Juristerei braucht natürlich einen Katalog, das macht es so schwer. Der Fall muss bekannt sein, nur dann können wir auch daran arbeiten. In Rheinland-Pfalz haben wir seit 2014 Hochrisikokonferenzen für das Hellfeld, also für bereits bekannte Hochrisiko-Fälle. Es gibt mehrere Modelle der Hochrisikoeinschätzung, zum Beispiel das Modell Odara, das in Kanada entwickelt wurde und in dem unser ganzes Netzwerk der Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit ausgebildet wurde. Es ist ein Auswertungswerkzeug, das auf einer Versicherung basiert, das prognostiziert, wie wahrscheinlich es ist, dass es einen Rückfall gibt und wieder etwas passiert. Wenn diese Männer eine bestimmte Punktzahl aufweisen, wird der Fall in Rheinland-Pfalz sofort in eine Fallkonferenz überführt, die alle vier Wochen an einem festen Termin stattfindet. Dort werden alle Fälle gemeldet, in denen es Hinweise auf eine Gefährdung der Betroffenen gibt, und dann wird ein Interventionsplan gemacht. In Rheinland-Pfalz haben wir das flächendeckend, das würde ich mir deutschlandweit wünschen. Tatsächlich gibt es da gerade in anderen Bundesländern ganz viel Bewegung, weil man diese Problematik erkannt hat – es sind „nur“ 121 Fälle, aber jede ermordete Frau ist eine zu viel.
Rollenbilder wandeln sich, wenn auch langsam. Sinkt mit der Bedeutung traditioneller Männlichkeit auch das Risiko eines Femizids?
Ich glaube es ehrlich gesagt nicht – man kann sogar beobachten, etwa in Südamerika, wo die Frauen verstärkt auf die Barrikaden gehen, dass Männer auf eine derartige Entwicklung mit noch größerer Gewalt reagieren. Ich glaube deswegen nicht an einen Zusammenhang zwischen dem Rückgang traditioneller Vorstellungen und dem Risiko von Intimiziden, weil es dabei um Machtstrukturen geht: Frauen werden getötet, weil sie Frauen sind. Sehen Sie sich Studien an, die untersuchen, wo Frauen weltweit am höchsten gefährdet sind von Männern getötet zu werden: Das größte Risiko für Frauen besteht in Afrika, Süd-, Mittel- und Nordamerika. Mit einer globalen Rate von 0,7 auf 100 000 Frauen ist das Risiko von einem Partner oder Familienmitglied ermordet zu werden in Europa am niedrigsten.
Femizid - Aktiv im Thema
frauenrat-nrw.de | Unabhängiges Netz aus rund 60 Frauenverbänden und –gruppen in NRW.
frauenberatungsstellen-nrw.de | m Dachverband der autonomen Frauenberatungsstellen NRW e. V. sind rund 50 Frauenberatungsstellen aus NRW versammelt.
www.unwomen.de | UN Women Deutschland ist eins von zwölf Komitees weltweit. Sie engagieren sich für Frauenrechte und in einem Schwerpunkt gegen Gewalt an Frauen.
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