„Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie schon längst verboten.“ Mein Leben lang dachte ich, der Satz stamme von George Orwell, dem Autor der herrschaftskritischen Dystopien „1984“ und „Farm der Tiere“. Viele Internetseiten sagen aber: Stimmt nicht, das hat Kurt Tucholsky gesagt. Andere sagen: Mark Twain. Wieder andere Seiten sagen: Es stimmt nicht alles, was da im Internet behauptet wird. Damit ist das Internet wie ein Politiker im Wahlkampf: verbreitet munter Unwahrheiten, während andere versuchen, sie zu entlarven.
Leider gibt es da ein paar Unterschiede. Ein falsch zugeordnetes Zitat ist nicht schlimm, im besten Fall sogar amüsant („Nur Feinde sagen die Wahrheit; Freunde und Liebende lügen unendlich, gefangen im Netz der Pflicht.“ – Mark Zuckerberg nach Abschaffung des Faktenchecks auf Facebook). Drollige Zitatesammlungen sind glücklicherweise nicht dafür zuständig, die Geschicke eines Staates zu lenken. Von denen erwartet man doch Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Rückgrat – oder nicht?
Politisches Aus
„Für einen Politiker ist es immer ein politisches Todesurteil, wenn sie oder er etwas nachprüfbar Unwahres aussagt“, sagte der CDU-Politiker Christian von Boetticher mal einer Zeitung. Danach sagte er die Wahrheit, nämlich dass er mal eine Beziehung zu einer Minderjährigen gehabt hatte, was sein politisches Aus bedeutete. Diese Ironie! Und trotzdem wurde Donald Trump wiedergewählt. Ach, warum in die Ferne schweifen, wenn das Schlechte liegt so nah: Angela Merkel wurde drei Mal wiedergewählt.
Und nun stehen wir wieder vor einer Wahl. Die Wahlslogans der großen Parteien sind angenehm vage bis sinnentleert. Da ist man wenigstens ehrlich, dass nicht viel Substanz hinter steht. In den Talkshows ergeht man sich ebenfalls in Plattitüden, Moralisierungen oder Angriffen gegen den politischen Gegner. Also ebenfalls Dinge, die man zwar als schlechten Stil, aber nicht unbedingt als Unaufrichtigkeit bezeichnen könnte. Und wird doch ein konkretes Versprechen gemacht, das dann nicht eingehalten wird – macht nichts; die einzigen, die das interessiert, sind irgendwelche drittklassigen Kommentarschreiber, die noch 2024 auf Merkels nicht eingehaltene Wahlversprechen von 2009 verweisen.
Parteien sind Klischees
Dass Olaf Scholz tatsächlich noch einmal als Kanzlerkandidat antritt, zeigt doch, wie die SPD an den Wahlkampf herangeht: Es ist vollkommen wumpe, wer da vorne steht. Der Deutsche wählt aus Gewohnheit. SPD ist eben die Arbeiterpartei (Wofür stehen die denn sonst? Nein, ernsthaft: Was ist deren Profil?). CDU wählt man entweder, weil man das schon immer gemacht hat oder weil man wirklich, wirklich von der SPD enttäuscht ist. Die Grünen werden in den Medien teilweise auch heute noch als „Ökopartei“ oder „Naturschutzpartei“ bezeichnet. Noch unglaubwürdiger wäre nur „Friedenspartei“.
Und wer von allen, vor allem aber von seiner eigenen Erbärmlichkeit enttäuscht ist, der wählt AfD. Das sind aktuellen Umfragen zufolge immerhin rund 20 Prozent. Aber es gibt nichts zu befürchten: Eine Koalition mit denen schließt jede andere große Partei aus, selbst die Merz-CDU. Andererseits hat in Österreich die ÖVP ja auch zunächst ausgeschlossen, eine Koalition mit der FPÖ, der AFD-„Schwester im Geiste“ einzugehen … Denn: Dass Ehrlichkeit in Wahlkampf und realer Politik so oft anzutreffen ist wie Koalitionsverhandlungen im Nationalen Volkskongress der VR China, haben wir ja bereits festgestellt.
Die nächste Koalition
Was erwartet uns also? Zeit, sich Gedanken über mögliche Benennungen zu machen. Die „Mitternachtskoalition“ ist schwarz-blau, geheimnisvoll, undurchsichtig wie die Nacht markiert sie eine Zeitenwende.
Die „Bahamas-Koalition“ ist schwarz-blau-gelb. Die Assoziation mit einer korrupten Bananenrepublik ist dabei auch nicht zufällig. (Dabei liegen die Bahamas im Korruptionswahrnehmungsindex noch vor Ländern wie Italien oder Griechenland; aber so funktioniert Populismus nun mal: mit Vorurteilen.)
Die „FC-Barcelona-Koalition“, benannt nach den Vereinsfarben Blau und Rot, wird wegen des unbedeutenden Stimmenanteils der SPD nicht zustande kommen.
Ich höre schon tausendfach Fingerknöchel beschichtete Spanholzoberflächen beklopfen (aha, ein paar Echtholzmöbel sind doch auch dabei), dass das bloß nicht zustande komme! Man solle das nicht beschwören, mahnen Greise und wedeln mit ihrem Krückstock, geben gesetzte Damen mit erhobenem Zeigefinger zu bedenken und tippen nichtbinäre Personen als Kommentar in ihr Smartphone, während sie ihre buntgetönte Haarsträhne aus dem Gesicht pusten.
Eine wie die andere
Woher die Angst? Was hat denn die (Noch-)Regierung Grünes getan? Der Koalitionsvertrag sah „keine neuen Genehmigungen für Öl- und Gasbohrungen“ vor. Grüße gehen raus an die neue Bohrplattform vor Borkum! Warum sollten also die politischen Dilettanten von der AfD hinkriegen, was die Profis von der Ampel nicht hinkriegen? Vielleicht, weil unter ihnen Idealisten sind, die wirklich was verändern wollen? (Was als ideal gilt, ist schließlich eine Frage der Perspektive.)
Die Altparteien aus Angst vor der AfD zu wählen, hat genauso viel Aufrichtigkeit und Weitblick wie andersherum jemand, der der AfD aus Protest vor den Altparteien seine Stimme gibt. Das erklärt, warum wir Lügen, Unaufrichtigkeit, Korruption und Klüngel hinnehmen: Veränderung birgt das Risiko, dass sich die Dinge in eine Richtung entwickeln, die uns nicht gefällt. Vielleicht sollte Pseudo-Tucholsky wie folgt korrigiert werden:
Wenn Parteien tatsächlich etwas verändern könnten, wären sie längst verboten.
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