1945 hinterlassen wir nicht bloß traumatisierte Opfer, die das endlich besiegte Schlachthaus Hitler-Deutschland überlebt haben. Auch wir selbst sind traumatisiert. Von unseren Verfehlungen und Gräueltaten. Von den alliierten Rückschlägen. Davon, als Aggressor und Verlierer dazustehen. Während andere in der Folge für uns die Vergangenheit aufarbeiten, üben wir uns fortan in Wegschauen und Verdrängung – darin sind wir ja noch gut geübt. Nach dem Wiederaufbau dann ist Deutschland sauber. Auf der Straße, auf der Leinwand. Wohlstand, Sissi, Wirtschaftsmacht. Demokratie und Versöhnung. Und endlich: Willy Brandts Kniefall von Warschau. Heute reihen sich einst eherne Gesten zwischen Wurstsemmel, Shrek und Maßbier ein, wenn Provinzkasper Markus Söder in seiner Insta-Galerie völlig unmotiviert und unreflektiert in Warschau den Kniefall nachstellt: Dort staatstragend, hier erbärmlich – „Willy Brandt für Arme“ (Spiegel online). Söder hält sich indes auch damit auf den vorderen Rängen in der Beliebtheitsskala. Deutsche Politik 2025: eine Farce. Aber wurscht: Uns geht’s gut.
Insta-Politik
Und: Wir sind gut. Wir sind anständig. Blauhelmtruppe statt Aggressor. Und wenn sich dann doch mal zu viel anstaut, brüllen wir es halt ungehört im Auto raus oder schlagen daheim die Frau. Gelebte Konfliktvermeidung. Die Politik indes bleibt auch flexibel: Exportieren statt expandieren. Statt Grenzen zu erweitern, setzt man auf Grenzen sichern und „Ausländer raus!“ Geht immer: Sündenböcke abholen lassen. Nach außen immer weiße Weste. Denn grausam sind wir nur dort, wo man es nicht sieht. Deutschland erblüht zur Wirtschaftsmacht auf Kosten von Umwelt, Moral und Menschenrecht. Dann kommt das Lieferkettengesetz. Aber keine Angst: Friedrich Merz wird uns wieder davon befreien. So ein Lieferkettengesetz ist schließlich Bürokratie, und Bürokratie gehört abgebaut.
Exportierte Grausamkeit
Bei aller Verdrängung: Kriege gehen trotzdem weiter. Darunter ein „Bürgerkrieg“ in Syrien, der kein Bürgerkrieg ist. Und eine Spezialoperation, die ein Krieg ist. Und was tun wir? Wir liefern immerhin Waffen. Vor allem aber leisten wir Opferhilfe deluxe. Denn: Die Spende salbt die Seele. Man ist hilfsbereit und braucht sich dabei nicht die Hände schmutzig zu machen. Geld kostet nix. Spendennation Deutschland. Wir kaufen uns frei, das ist unsere Aufarbeitung. Und so feiern wir uns vollnamentlich selbst ab in Spendengalas zur besten Sendezeit. „Peter und Maria Müller: 20 Euro“. Geld geht immer. Doch so solidarisch wir uns geben, irgendwann ist dann auch mal gut. Wir unterstützen die Ukraine im Kampf gegen Russlands Angriffskrieg. Wir sind dabei keine Kriegspartei, werden aber schneller kriegsmüde als die Ukraine. Nervt halt irgendwann, der Krieg. Wir quengeln, schon bald wählt jeder Fünfte Faschismus, und vor den Wahlen taktieren auch die demokratischen Parteien nur noch auf Kosten der täglichen Kriegsopfer nebenan, weil: Wähler:innenstimmen first! Saubermann setzt Prioritäten.
Leinwand-Kriege
Seit 80 Jahren herrscht kein Krieg auf deutschem Boden. Wir haben uns hübsch eingelullt. Aus Trauma wurde Traum. Mit einem Bundespräsidenten, der sich in die Bedeutungslosigkeit mahnfloskelt, und einem Bundeskanzler, der sich durch eine Rhetorik schwurbelt, die aberwitzig darum bemüht ist, bloß keine klare Haltung zu beziehen. Deutschland ist Entwicklungsland. Nicht bloß in Hinblick auf Digitalisierung und Verteidigung. Vor allem in Hinblick auf Haltung und Weitsicht. Sprich: Wir sind angreifbar. Ausgerechnet jetzt, wo die global belächelte „Deutsche Angst“ mal eine Berechtigung hat, sind wir „ganz lull und lall“ (Spliff). „Stabil“ erwächst zur beliebten Vokabel im Umgangssprachraum. Sind wir schon gaga oder bloß verzweifelt nach 80 Jahre Trauma-Starre in einem Land, in dem Krieg bloß in Fernsehen und Kino stattfindet? Dort, wo uns Elend und Krieg nicht nachhaltig erreichen. Oder ist schon einmal jemand mit PTBS aus dem Kinosaal getaumelt? Krieg findet nicht auf der Leinwand statt. Auch wenn es dafür Oscars regnet. Zeit aufzuwachen.
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Ausgebeutet und gegeneinander aufgehetzt
Teil 2: Leitartikel – Wie der Westen Afrika in die Dauerkrise gestürzt hat
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Teil 2: Interview – Historiker Andreas Eckert über die Folgen des europäischen Kolonialismus
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Teil 2: Lokale Initiativen – Ausstellung „Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg“ im NS-Dok
Gewalt mit System
Teil 3: Leitartikel – Patriarchale Strukturen ermöglichen sexualisierte Gewalt als Kriegsmittel
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Welche Lüge bekommt meine Stimme? – Glosse
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Hindernislauf zur deutschen Staatsbürgerschaft – Glosse
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Wie sich die Natur schwuppdiwupp retten lässt – Glosse
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