Pop ist ein Durcheinander. Vorbei ist die Zeit, als Jugendsoziologen noch von „Tribes“ sprachen und damit sorgfältig abgegrenzte Gruppen junger Menschen meinten: die Zeiten, in denen ein Synthesizer auf der Bühne auf einem Metalkonzert noch den sozialen Tod bedeuten konnte. Zumindest auf den Festivalbühnen dieses Sommers sind solche Animositäten nicht mehr zu erkennen. Zum Beispiel beim Moers-Festival. Das hat sein Programm zwar schon lange der Improvisation mit allen Arten elektrisch und akustisch erzeugter Musik geöffnet, diesmal nimmt aber auch die durchkomponierte elektronische Musik einen Teil des Programms ein. Die verglitchten Soundflächen des Kanadiers Tim Hecker bilden den Abschluss des Sonntags. Vorher darf man bereits Can-Schlagzeuger Jaki Liebezeit im Duett mit Kölns Laptop-Maestro Markus Schmickler hören und am Vortag spielt das Sun Ra Arkestra eine Hommage an den Begründer des Afro-Futurismus, der in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. Für Freunde eines erweiterten Popbegriffs ist die Reise an den Niederrhein dieses Jahr Pflicht.
Apropos erweiterter Popbegriff. Den pflegt mittlerweile auch das Open Source Festival. Ursprünglich mal als Elektronikfestival gestartet, verfolgt es dieses Jahr eine interessante Taktik. Man lädt einen Headliner ein, wie er konsensfähiger nicht sein könnte. Die Rede ist von Max Herre, der deutschsprachigen Fusion aus Conscious Rap, Soul und ein klein wenig Kitsch. Darum herum platziert man ein paar Co-Headliner, die potentiell ebenso konsensfähig sind – nur unbekannter. Panda Bear reduziert die Melancholie der Beach Boys auf ihre Essenz aus Call-and-Response-Chören; Hercules and Love Affair sind die vielleicht schönste Disco-Reinkarnation und Dean Blunt arbeitet an einer Neuformulierung klassischer Bluesmotive im Kunsthochschul-Popgewand.
Ähnlich vielseitig zeigt sich auch das Dortmunder Juicy Beats. Nicht nur, dass die eingeladenen Wüstenrocker Calexico kaum „Beats“ in ihrer Musik haben, ihre minimal instrumentierten Songs sind ein wagemutiger Kontrast zum restlichen Line-up. Das changiert zwischen elektronischem Charts-Pop (Milky Chance) und poppiger Elektronik (Alle Farben) und hat nebenbei noch ein paar Dance-Acts der derbsten Sorte (Boys Noize, Frittenbude) nebst HipHop mit Humorverdiensten (Aligatoah) zu bieten. Und weil es damit nicht genug ist, haben sich die Booker noch einen Filigranarbeiter des Mischpults eingeladen. Der Berliner Produzent Mark Ernestuns spielt einmal mit dem melancholischen Reggae-Vokalisten Tikiman ein Dubtechno-Set und tritt danach noch mit einem Ensemble senegaleischer Mbalax-Musiker als Jeri-Jeri auf. Hier vermischen sich die traditionelle Musik des Senegals und die feingedrechselte Elektronik Berliner Techno-Studios.
Den Höhepunkt an geschmackvoller Eklektik stellt jedoch ein Festival im Nachbarland dar. In Tilburg, gut 100 km hinter der niederländischen Grenze, versammelt sich Mitte September der schönste Mix der unterschiedlichen Avant-Pop-Spielarten. Der britische Produzent Untold verbindet in unbestechlicher Weise Bassmusik mit Modular-Synthesizer-Experimenten. Marissa Nadler und Woods reduzieren Folkmusik auf einen Kern aus Akustikgitarre und Begehren, und niemand verkörpert die Eklektik so perfekt wie der Sample-Wizard Sir James Pants.
Moers Festival | Moers | 6. - 9.6. | www.moers-festival.de
Open Source Festival | Düsseldorf | 12.7. | open-source-festival.de
Juicy Beats | Dortmund | 26.7. | www.juicybeats.net
Incubate | Tilburg | 15. - 21.9. | www.incubate.org
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