Es ist reichlich leer auf der Bühne. So, als sei man versehentlich in eine Probe geraten. Und der, der am Rand wie ein Regisseur an seinem Tischchen sitzt und schreibt, scheint auch mit keinem Publikum gerechnet zu haben. Reichlich derangiert sieht er aus, was mit der Flasche vor ihm zu tun haben dürfte. Mal schauen, was das wohl gibt, denkt sich der Zuschauer, lehnt sich zurück und wird direkt wieder aus seiner Behaglichkeit aufgescheucht – von eigenartigen Zuspätkommern, die sich umständlich durch die Reihen wurschteln. Eine vermeintliche Zuschauerin erhebt sich aus den ersten Reihen und betritt als selbsternannte Muse die Bühne.
Es scheint, als habe sich Regielegende Dietrich Hilsdorf mit 63 Jahren wieder auf seinen alten Stil besonnen. Den Zuschauerraum hatte er einst als einer der Ersten bespielen lassen und den konservativen Flügel des Publikums auch sonst mit allerlei Neuerungen und Provokationen geärgert. Der Reiz des Neuen hatte sich bei der Handlung vor der Bühne irgendwann verflüchtigt. Hilsdorf verzichtete lange auf dieses Stilmittel. Nun aber drängte sich der Kunstgriff geradezu auf. Denn Offenbachs „Contes d‘Hoffmann“ beginnen mit einer Pause in der Oper – in die Hoffmann allerdings nicht gegangen ist, weil seine Geliebte dort auftritt, mit der er gerade Streit hat. Er lässt sich stattdessen volllaufen und verfällt in Wehmut über seine unglücklichen Liebschaften. Die Fleischeslust hält ihn von der hehren Kunst ab. Symbolisiert wird sie von einer Nackten, die überraschend aus dem Chor heraus auf die Bühne tritt. „Typisch Hilsdorf“, wird der eine oder andere denken. Doch Provokation ist sicher nicht das herausragende Merkmal dieser Inszenierung. Mit seiner jüngsten Arbeit setzt Hilsdorf ganz auf Reduktion. Er rückt das Theater selbst in den Mittelpunkt des Bühnengeschehens. Sein Bühnenbildner Johannes Leiacker muss mit wenigen Mitteln zurechtkommen, vor allem mit Vorhängen und ein paar Fenstern. Dennoch gelingt ihm gemeinsam mit Beleuchter Dirk Beck eine wirkungsvolle, zuweilen gespenstische Atmosphäre.
Im Grunde aber demontiert Hilsdorf das Romantisch-Phantastische der Vorlage. Was Hoffmann aus seiner Erinnerung kramt, ist nichts, wovon sich schwärmen ließe. Deshalb werden auch die finsteren Züge der Handlung konsequent unterstrichen. Die Begegnung mit der Kurtisane Giulietta etwa verlegt die Regie vom schmucken Palazzo in eine reichlich schäbige Spelunke, in der Hoffmanns Morde deutlich an Härte, aber auch an Logik gewinnen. Hilsdorfs Hoffmann ist eine verkrachte Theaterexistenz unserer Tage. Zurab Zurabishvili, der im Wechsel mit Thomas Piffka die Titelpartie singt, vermag dies gut zu transportieren. Musikalisch ist die Produktion unterdessen alles andere als verkracht, sondern bewegt sich durchweg auf begeisternd hohem Niveau. Bei der Besetzung der weiblichen Partien brechen Hilsdorf und GMD Stephan Soltesz übrigens mit der Tradition, die vier Geliebten mit derselben Sängerin zu besetzen. Stattdessen gibt es unterschiedlich profilierte Stimmen und Darstellerinnen. Die Essener Philharmoniker warten unterdessen mit einer klanglichen und rhythmischen Leichtigkeit auf, die zum zunehmend düsteren Bühnengeschehen mitunter recht schwarzhumorig wirkt.
„Hoffmanns Erzählungen“ I Fr 13.4., 19.30 Uhr I Aalto Theater, Essen I 0201 812 22 00
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