Zu seinen Lebzeiten war sie Mozarts größter Opernerfolg. Genau 230 nach ihrer Uraufführung ist „Die Entführung aus dem Serail“ ein Graus für jeden Regisseur. Die bunte Türken-Maskerade, zu Mozarts Zeiten ein großer, komischer Renner, wirkt heute nur noch merkwürdig, die Handlung ist verworren, und die gesprochenen Zwischendialoge engen auch noch jeden Spielraum für Umdeutungen auf ein Minimum ein. Wer mit einer Inszenierung der Entführung etwas reißen will, darf im Umgang mit der Vorlage nicht zimperlich sein. Die Niederländerin Jetske Mijnssen hatte den Willen zur eigenen Handschrift und legte ordentlich Hand ans Original. Die ursprünglichen Dialoge von Johann Gottlieb Stephanie strich sie vollständig und ersetzte sie teilweise durch eigene. Den Exotismus verbannte sie so radikal von der Bühne, dass es in ihrer „Entführung aus dem Serail“ weder mehr ein Serail noch eine Entführung gibt.
Stattdessen landet sie – wie alle Regisseure, denen nichts Besseres einfällt – bei einer schicken Party in besseren Kreisen. Bassa Selim feiert seinen 40. Geburtstag. Warum? Weil die Essener Solisten allesamt in etwa so alt sind und sich Regisseurin Mijnssen (Jahrgang 1970) wohl auch darin wiederfindet. Die existentiellen Probleme ihrer Party-People haben nichts mehr mit den Bedrohungen der Mozartschen Figuren zu tun. Diese waren noch handfest entführt und eingesperrt worden, mussten Tod und Folter fürchten. Mijnssens Wohlstandsclique dagegen hat nur „Chaos im Kopf“, wie es in einem ihrer Zwischendialoge heißt. Sie hat schlimme Bindungsängste und ist unfähig, sich zwischen potenziellen Partnern zu entscheiden.
Zugegeben, den Kern der Handlung in der Dreiecksgeschichte von Konstanze, Belmonte und Bassa Selim zu suchen, ist keine schlechte Grundidee – und durchaus im Sinne Mozarts. Doch kommt sie im Kreise der modernen Partygesellschaft nicht über ein theoretisches Konstrukt hinaus, das sich in Verbindung mit dem Originallibretto hartnäckig gegen die szenische Umsetzung sperrt. So bleibt der Regie alsbald nicht anderes übrig, als sich in zunehmende Abstraktion zu flüchten. Sanne Danz schafft als Kulisse ein strahlend weißes Nirgendwo, das weit in die Tiefe des Bühnenraums hineinführt. Selbst die Geburtstagsparty mit holländischem Dosenbier verflüchtigt sich alsbald in diesem Nichts. Es bleiben betroffen dreinblickende Gestalten, die darin umherwandeln und letztlich auch oft an der Rampe stehen. Man würde sich zu Tode langweilen, gäbe es nicht das wirklich aufsehenerregende Pult-Debüt von Christoph Poppen. In der Philharmonie gleich nebenan hat der Spezialist für historische Aufführungspraxis schon vor einigen Jahren große Erfolge eingefahren. Am Pult der Aalto-Oper aber steht er zum ersten Mal und lässt auch als Operndirigent kaum Wünsche offen. Poppen arbeitet viele Feinheiten der Partitur überraschend deutlich heraus und stellt ebenso überzeugend übergreifende wie innere Sinnzusammenhänge her.
Gesanglich bewegt sich diese Produktion auf gewohnt hohem Essener Niveau. Simona Šaturová ragt als Konstanze allerdings noch einmal daraus hervor. Ihre Technik, Strahlkraft und Dramatik sind stellenweise atemberaubend.
„Die Entführung aus dem Serail“ I So 23.9 18 Uhr I Aalto-Theater Essen I 0201 812 20
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