Muss man in Berlin wohnen, um schwarzironischen, gesellschaftskritischen Rap zu machen? Wenn man dem Wortkünstler Lemur so zuhört, wie er auf seiner neuen Platte „Die Rache der Tiere“ stilsicher zwischen Sinnfindung und Zerstörungswahn, zwischen Freiheitsfeier und grad so eben noch gezügelter Wut hindurch surft, könnte man auf diese Idee kommen. Früher MC bei Herr von Grau, hat Benjamin nun das zweite eigene Album unter dem Künstlernamen Lemur produziert. Er stellt es im Rahmen seiner Record-Release-Tour am 21. Februar im Bahnhof Langendreer in Bochum vor.
Lemur klingt gereifter, aber immer noch spielfreudig, dreckig und klug; mies drauf aus enttäuschter Liebe, nach vorn drängend aus Prinzip, und zudem erstaunlich hartnäckig im Gehörgang. Eben so richtig nach Großstadt: der einsame Wolf als Antiheld, düster, derbe und nicht unterzukriegen.
In der ersten Videoauskopplung „MMV / Ballast“ rennt Lemur durch die Berliner Straßen, in apokalyptische Szenerien, getrieben von Klaustrophobie, Drogen und den Bildern im eigenen Kopf. Reizüberflutung allerorten, nichts ist mehr zu spüren von den Freiräumen, die seit Bowie und Iggy Pop zum Berlin-Mythos gehören. Berlins Brachen sind verbaut. Lemur muss raus, raus ins Grüne, ins Licht und in bunt besprühte Bauruinen – dort sind plötzlich die Ketten gesprengt, neue Freiheit liegt in der Luft, nun kann man Paläste basteln aus altem Schutt.
Während Lemur bei aller Gesellschaftskritik an Bitterkeit verloren hat und mehr Sonne zulässt, fühlt sich der Wuppertaler Prezident nach wie vor heimisch im Nihilismus. Whiskey, Koks und die Niedrigkeiten des Alltags scheinen ihm die Sicht noch zu schärfen: Unübertrefflich messerscharf formuliert sind die Schwarzlichtattacken des Rappers, der seit nun mittlerweile zehn Jahren als Geheimtipp für den besten Texter Deutschlands durchgeht. Er versammelt alle Düsternis, die das Leben und die Geistesgeschichte hergeben. Bukowski, Dante und Platon stehen Pate für seine Geschichten von Illusion, Lüge und Gefangensein.
Home ist where your hate is: Lemur musste raus aus der Enge seiner Heimatstadt Wolfsburg, Prezident bleibt in seiner Geburtsstadt Wuppertal und bezieht seine Energie aus der Tristesse um ihn herum. Man kann den Untergang ja auch in Wuppertal feiern. Mit Brachen und Bauruinen kennt man sich hier schließlich aus.
„Und immer noch nicht nach Berlin gezogen dieser Vogel / Wofür denn auch? Die Hundescheiße ist auch hier nicht ohne / Man fühlt sich wohl als Misanthrop im Niemandsland / Wuppertal wo MVPs Tüten dreh‘n am Spielfeldrand“ rappte Viktor Bertemann alias Prezident vor einigen Jahren. Am 3. Februar spielt er mit den Kamikazes und Silvio Vincent im Berliner Club Burg Schnabel. Ein bisschen Berlin von Zeit zu Zeit braucht dann wohl doch jeder.
Prezident | Fr 3.2. 20 Uhr | Burg Schnabel, Berlin | 030 61 10 13 13
Lemur | Di 21.2. 20 Uhr | Bahnhof Langendreer, Bochum | 0234 687 16 10
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