In früheren Zeiten befand sich auf der Kirchenempore irgendwo in Griffweite der Orgelbank auch schon mal ein Fläschchen mit Hochprozentigem – sagt die Legende. Die Orgel wurde „geschlagen“, und wenn der Schmerz über die nicht getroffenen Tasten zu groß wurde, dann kam kurzfristig der Weingeist dem Heiligen Geist zu Hilfe. Im Winter war es auch oft verdammt kalt, dann fror der Organist und die Pfeifen verstimmten sich … alles Gründe für einen wärmenden Schluck. Wer mehr wollte als die Begleitung der liturgischen Dienste, wer gar einen Kirchenchor betreute, wer ein Examen für Künstlerisches Orgelspiel sein Eigen nannte oder sogar einen Konzertchor leiten durfte, der zählte zu den wenigen Berufenen und der künstlerischen Elite der Zunft der Kirchenmusiker.
Die Liaison zwischen einem Chorleiter und seinem Ensemble ist dabei eine ganz besondere, schon aufgrund spektakulärer Dauer: So leitete Philipp Röhl, eine Legende der Kölner Chorszene, bis 1990 seinen Philharmonischen Chor, den er selbst 1947 gegründet hatte. Sein Nachfolger Horst Meinardus ist dem Chor seit eigenen Kindertagen zugetan, erst als Sänger, später als Assistent und Dirigent: Er verwaltet heute im Netzwerk Kölner Chöre unter den Dirigenten die Pole Position für die längste Bühnenerfahrung.
Das Verhältnis von Chorleiter und Sängerschaft gleicht einer eheähnlichen Beziehung mit wöchentlichen Proben, Chorfreizeiten, Probenwochenenden, Konzerten und Tourneen weit über rein musikalische Fragen hinaus. Im Kirchenchor ist dabei der Chorleiter noch intensiver mit der Gemeinschaft verstrickt, hier herrschen Vereins-ähnliche Strukturen mit Freizeitgestaltung und gesellschaftlichen Pflichten. Das nimmt mit den künstlerisch wachsenden Aufgaben erfahrungsgemäß ab, aber niemals beschränkt sich der Chor-Chef auf die Musik allein: Ähnlich wie Bach als Thomaskantor für seine Alumnaten bleibt der Chorleiter auch ein menschlich wichtiger Mentor – mal mehr und mal weniger.
Jetzt beendet der Dirigent Andreas Meisner seine 32-jährige Arbeit mit dem Oratorienchor Köln. Meisner: „Dieser wunderbare Chor hat mir aufgrund seiner großen Besetzung immer wieder die Möglichkeit gegeben, groß besetzte Werke der Spätromantik und frühen Moderne aufzuführen, wie z.B. das Requiem von Berlioz, das War Requiem von Britten, die Auferstehungssymphonie von Mahler oder die Sea Symphonie von Vaughan Williams!“ Das Dirigieren solch aufwändiger, auch rein materiell alles fordernder Großprojekte ist nur wenigen Kirchenmusikern vergönnt – eine Ausnahmesituation in Köln. Künstlerisch bleibt Meisner seinen Aufgaben am Altenberger Dom verpflichtet, wo mehrfach die in der Philharmonie präsentierten Werke ebenfalls zur Aufführung kamen. Der Dirigent wird mit Dvoráks Requiem zum Abschied ein ausgewiesenes Lieblingsstück aufführen, auch wegen des „emotionalen Tiefgangs“: Da geht vielleicht manche Träne auf Reisen.
Antonín Dvořák, Requiem b-Moll op. 89 | Sa 26.5. 20 Uhr | Kölner Philharmonie | www.oratorienchor.de | 0221 28 01
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Orchester der Stardirigenten
London Symphony Orchestra in Köln und Düsseldorf – Klassik am Rhein 04/24
Blickwechsel in der Musikgeschichte
Drei Spezialisten der Alten Musik in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 03/24
Abenteuerliche Installation
„Die Soldaten“ in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 01/24
„Herrliche Resonantz“
Avi Avital in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 12/23
Funk und Soul mit fetten Sounds
„Tribute To Curtis Mayfield“ in der Kölner Philharmonie – Improvisierte Musik in NRW 09/23
Tod und Auferstehung
„Auferstehungssinfonie“ in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 09/23
Aus grellem Sonnenlicht
Sarah Aristidou in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 03/23
Nationale Abenteuer
Barenboim und Lang Lang in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 07/22
Konzert als Abenteuer
Aurora Orchestra in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 06/22
Riesige Hände
200. Geburtstag von Clara Schumann – Klassik am Rhein 01/19
Streicher statt Synthesizer
Handgemachte Musik aus Polen durchforstet die Stile – Improvisierte Musik in NRW 05/18
An die Freude
Schillers Ode klingt in Köln einmal anders – Klassik am Rhein 01/18
Aus Alt mach Alt
Tage Alter Musik in Herne 2024 – Klassik an der Ruhr 11/24
Sinfonische Vollender
Gil Shaham in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 11/24
Weiblicher Beethoven
Emilie Mayers 5. Sinfonie im Konzerthaus Dortmund – Klassik an der Ruhr 10/24
Ein Himmel voller Orgeln
Zwei Orgelfestivals in Köln und Düsseldorf – Klassik am Rhein 10/24
Mit virtuoser Blockflötistin
33. Festival Alte Musik Knechtsteden in Dormagen und Köln – Klassik an der Ruhr 09/24
Nach François-Xavier Roth
Der Abgang des Kölner GMDs sorgt für Umbesetzungen – Klassik am Rhein 09/24
Barock und Filmmusik
Open-Air-Konzerte „Viva Italia!“ im Ruhrgebiet – Klassik an der Ruhr 08/24
Exotische Musik
„Sounds of Nature“ und „Diálogos de amor“ beim Niederrhein Musikfestival 2024 – Klassik am Rhein 08/24
Pop-Hit trifft düstere Rarität
Semesterkonzert an der RUB – Klassik an der Ruhr 07/24
Akademische Bürgernähe
Michael Ostrzyga dirigiert „Elias“ in Bergheim und Köln – Klassik am Rhein 07/24
Bruckners „verfluchte“ Neunte
„Von Herzen – Letzte Werke“ in Bochum – Klassik an der Ruhr 06/24
Mit Hochdruck bei der Arbeit
Die Orgelfeierstunden im Kölner Dom – Klassik am Rhein 06/24
Ungewünscht brandaktuell
Auftakt zum Klangvokal Festival Dortmund 2024 – Klassik an der Ruhr 05/24