Dass die Festivalsaison begonnen hat, machte sich auch an wenig ekstatischen Orten bemerkbar: zum Beispiel in einer Bochumer Poststelle. „Ich möchte ein Einschreiben abholen, das ...“ – „Ach, die Festivalkarten, ’ne?“, unterbricht die Frau am Schalter und holt, nicht zum ersten Mal an diesem Tag, die jüngst verschickten Tickets fürs Fusion-Festival. Eintrittskarten trifft es ja besser, schließlich verspricht man sich von Festival-Besuchen mehr, als ein Wochenende Musik unter freiem Himmel: Man betritt im Idealfall kurz eine andere Welt. Festivals sind eine Rückkehr zu den Jugendkulturen, die einen großgezogen haben oder spannende Entdeckungsreisen in ein rauschartiges Wunderland.
Aber es geht auch anders, wie wir mit einer Mischung aus Enttäuschung und Staunen am 23. Juli in Gelsenkirchen beobachten können: „Wir bauen gemeinsam mit Tomorrowland die gesamte Veltins-Arena um, draußen starten und landen Helikopter“, raunt eine Frauenstimme im Werbeclip. Nein, das belgische EDM-Festival kommt nicht ins Revier, dafür gibt’s eine riesige Leinwand, die einen Livestream von einem Festival-Ableger in Mexiko zeigt. Tomorrowland lockt mit eindrucksvollen Hochglanz-Trailern, einem Turm zu Babel von einer Bühne und massentauglichen Headlinern wie David Guetta. Alices Wunderland, dem Motiv der Festival-PR, ähnelt das weniger, eher einem Disneyland auf Ecstasy. Und trotzdem: Wie beim Fußball, so lautet auch beim Party-Public-Viewing das Motto: Nicht dabei, aber trotzdem besoffen. Mit über 30.000 Besuchern ist das Happening ausverkauft. Um dem Wahnsinn die Krone aufzusetzen, werden ausgewählte DJs vom richtigen Festival per Hubschrauber eingeflogen. Das Motto des Abends, „Be part of the madness in Germany“ könnte nicht passender sein.
Kurze Ausflüge in hedonistische Parallelwelten, die etwas weniger nach Kunststoff schmecken, bieten eher die zahlreichen spontanen Raves, versteckt in Wäldern zwischen den Zentren des Reviers und um Köln und Bonn. Einfach Augen und Ohren offen halten: Der Weg ins Wunderland will gefunden werden, nicht gekauft.
Im Juni lohnt sich auf jeden Fall der Weg in den Landschaftspark Duisburg, zum Traumzeit-Festival (17.-19.6.). Wie viele, auch größere Festivals entwickelte sich das musikalische Kind der Duisburger Akzente vom Genre-Festival zur Vielfalt. Die Kunst ist, dabei ein spannendes Programm zu bieten, und nicht nur ein vorhersehbares Best-of der Saison. Traumzeit ist es gelungen: Klassiker wie Tocotronic, Singer-Songwriter aus der Region wie The Boy Who Cried Wolf, die Hip-Hop-Ikonen Fünf Sterne Deluxe und viele andere sind zu hören. Und das französische Elektronica-Duo Air spielt hier seine einzige Deutschland-Show der Saison. „All I Need is Time“, singen sie mit verschlafener Eleganz und klingen, als ob sie mehr als genug davon hätten. Ein Soundtrack zum Entschleunigen, für tranceartiges Einkehren in ein musikalisches Wunderland – statt eines Livestreams aus der Plastikwelt.
Traumzeit – Festival am Hochofen | Fr 17.6. - So 19.6. | Landschaftspark Duisburg | www.traumzeit-festival.de
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