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Leonce Röth
Foto: privat

„Auch finanzschwache Interessen hören“

30. Oktober 2019

Politikwissenschaftler Leonce Röth über fehlende Lobby-Kontrolle

engels: Herr Röth, inwiefern hat sich Lobbyarbeit verändert?

Leonce Röth: Die Lobbyarbeit hat sich erheblich verändert. Bis in die Neunziger hatte man in Deutschland ein sogenanntes „korporatistisches System“. Die Interessensvertretung ist damals noch in sehr organisierter Form an die Politik herangetreten. Man hatte zentrale Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände, die Interessen gebündelt und in den Austausch mit der Exekutive gebracht haben. Alle drei Parteien standen, für heutige Verhältnisse, in einem relativ fairen Verhältnis zueinander. Doch der Einfluss und die Bedeutung dieser Verbände hat sich massiv reduziert und man kann beobachten, dass sich die Interessen pluralisieren, also dass wir sehr viele Organisationen, Verbände, Unternehmen haben, die versuchen auf die Politik Einfluss zu nehmen. Und den Raum dafür auch vorfinden. Zudem hat sich ihre Arbeit über die Zeit stark professionalisiert. Das heißt, es ist ein gewaltiger Apparat an Unternehmen gewachsen, die nur dazu da sind, Zugänge für Lobbyisten zu schaffen. Sie versuchen nicht nur direkt auf die Politik Einfluss zu nehmen, sondern haben auch Taktiken entwickelt, um auf die öffentliche Meinung indirekt Einfluss zu nehmen, das sogenannte „deep lobbying“.

Warum hat sich das verschärft?

Ich glaube, es sind verschiedene Dinge, die dazu beigetragen haben. Das Eine ist, dass wir generell eine Verschiebung der Idee davon wahrnehmen, welche Rolle der Staat und der Markt einnehmen sollen. In Deutschland zeichnet sich insbesondere ab den 90ern eine Hinwendung zu marktorientierten Lösungen ab, weg von klassischen Verbänden, auch weg von Gewerkschaftseinflüssen und hin zu der Befürwortung von Marktprozessen. Man erleichtert Unternehmen und Beratern den Zugang zu politischen Prozessen und wertet sie generell auf. Zudem kann man wachsende ökonomische Ungleichheit beobachten. Diese schlägt sich wiederum nieder in einen ungleichen Einfluss auf politische Prozesse. Zuletzt gibt es durch die Globalisierung mehr Akteure und Schauplätze als zuvor. Dadurch treten einmal große transnationale Akteure in den Prozess des Lobbyismus ein, und zudem leidet die Transparenz. Letzteres weil es für den Bürger schwieriger wird komplexere Politikprozesse nachzuvollziehen. Für Lobbyisten wird es dadurch zugleich einfacher Einfluss zu nehmen.

Wie könnte Lobbyarbeit transparenter werden?

In Deutschland müssen Abgeordnete ihre Treffen mit Lobbyisten nicht protokollieren oder öffentlich bekannt geben. Eine zentrale Forderung von Lobbycontrol ist, ein sogenanntes Lobbyregister einzuführen, in dem diese Prozesse dokumentiert werden müssen. Denn der wichtigste Schritt in der Arbeit gegen unausgewogenen Lobbyismus ist, dass man Transparenz schafft, aufzeigt wer welche Zugänge hat, wann welche Entscheidungen getroffen werden, und da wäre das Lobbyregister eine sehr große Hilfe für den Bürger. Auf EU- Ebene ist das Anfang diesen Jahres geschehen (EU-Transparenzregister). Die EU hat nach langanhaltendem Druck von vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen ein in Teilen verbindliches Lobbyregister verabschiedet, welches online für jeden Bürger einsehbar ist. Damit ist die EU heute transparenter als beispielsweise das deutsche Parlament oder der Bundesrat. Auf Bundesebene ist ein Lobbyregister recht kurz vor Abschluss der Verhandlungen aus dem Koalitionsvertrag verschwunden und hat es damit verpasst ein formales Ziel der großen Koalition zu werden. In den Anfängen von Lobbycontrol hielt man ein solches Register für ein utopisches Unterfangen, das auf politische Nichtbeachtung und Ablehnung stieß. Inzwischen unterstützen diese Forderung ein Großteil der etablierten Parteien, selbst in Teilen aus dem Mitte-Rechts Milieu. Es ist also ein großer politischer Erfolg, dass es in der Arena der Abgeordneten angekommen ist. Und der nächste Schritt wäre, weiterhin so viel Druck zu erzeugen, dass man nicht mehr umhin kommt, in der nächsten Legislatur ein Lobbyregister einzuführen.

Sind Unternehmen überhaupt die richtigen Berater?

Ich glaube nicht, dass es so etwas wie die „richtigen“ Berater gibt, ich finde es richtig, dass es einen pluralistischen Einfluss auf die Politik gibt. Unternehmen sollen definitiv ebenfalls Einfluss nehmen, ihre Stimme soll gehört werden und sie sollen artikulieren, was sie für richtig halten. Das kann und ist in vielen Fällen natürlich ein Gewinninteresse, aber es kann auch nötige Expertise sein. Und wir wissen von Politikern, dass sie diese Expertise in vielen Fällen brauchen, also dass sie mit bestimmten Unternehmen sprechen wollen und müssen, um bestimmte Sachverhalte überhaupt zu verstehen. Das Problem liegt also nicht per se darin, dass man mit Unternehmen spricht oder, dass Unternehmen bestimmte Interessen haben, sondern, dass es kein Gleichgewicht in der Repräsentation verschiedener Interessen gibt. Wir haben das Anliegen, dass in einem demokratischen Prozess viele Stimmen gehört werden und Stimmen nicht nach ihrer Finanzkraft gewertet werden. Das heißt, mit Unternehmen sprechen: ja, unbedingt. Sie sollen auch ihre Interessen artikulieren und Lobbyarbeit machen, aber es muss transparent sein, was das für Interessen sind, wie sie durchgesetzt werden, und es muss einen gewissen Ausgleich geben. Es kann nicht sein, dass bei bestimmten Politikprozessen mit weitreichenden Folgen wie dem Wohngipfel vierzehn Verbände der Immobilien und Baubranche aber die Seite der Mieter von zwei Gewerkschaften und dem Mieterbund vertreten ist. Auch finanzschwache Interessen müssen gehört werden und Einfluss nehmen können. Ansonsten haben wir ein Problem unser System wirklich demokratisch zu nennen.

Ist es denn demokratisch, wenn beispielsweise Massentierhaltung und Kükenschreddern trotz des Unbehagens der Bevölkerung weiter durchgeführt wird und sich der Verdacht erhärtet, dies läge nur an Lobbyarbeit?

Gegeben, wir haben die Situation, dass ein Großteil der Bevölkerung mit diesen Praktiken nicht leben möchte und wir gleichzeitig sehen, dass sich das in der Politik nicht niederschlägt, dann handelt es sich um ein Repräsentationsversagen. Die weitere Annahme wäre, dass Lobbyismus das verhindert. Wir als Lobbycontrol und all diejenigen, die die Organisation unterstützen, hätten die Aufgabe transparent zu machen, was hier genau passiert. Recherchieren, Druck auf Politiker, Transparenz schaffen und Missstände in die Öffentlichkeit tragen. Immer wenn ein Politiker unter dem Vorwurf steht, mehr von Lobbyisten als von seinen Wählern beeinflusst werden und wir das zeigen können, ist das für die Politiker schlecht, insbesondere dann, wenn dies durch die Medien aufgegriffen wird. Darüber hinaus ist es aber auch am Wähler zu verstehen, dass es politische Akteure gibt, die sehr viel wahrscheinlicher auf Lobbydruck reagieren als andere und dementsprechend ihre Stimmen so auf die Parteien zu verteilen, dass ihre Interessen vernünftig repräsentiert werden. Die Aufgabe kann man dem Wähler nicht abnehmen.

Was ist eigentlich aus TTIP geworden? Der Aufschrei war groß, doch vom Tisch ist es noch lange nicht.

Die Verhandlungen laufen immer noch, es gibt eine zweite Runde: TTIP 2.0. Die erste Runde ist aus verschiedenen Gründen gescheitert. Es gab tatsächlich einen großen Aufschrei, das war ein gutes Beispiel, dass zivilgesellschaftliche Organisationen und Verbraucherverbände die Öffentlichkeit nutzen und darüber informieren konnten, dass hier ein Prozess stattfindet, der in der Art und Weise wie er stattfindet, so nicht in Ordnung ist -- und da muss man über Inhalte noch gar nicht sprechen. Zunächst ging es darum, dass ein sehr wichtiges Handelsabkommen abgeschlossen werden sollte, welches potenziell einen großen Einfluss auf das Leben in den betreffenden Ländern hätte. Beispielsweise auf Verbraucher- und Umweltstandards. Die Hauptkritik ist, dass die Verhandlungen so geheim stattfinden, dass der Zivilgesellschaft, aber auch Teilen der Politik, gar kein Einfluss auf diese Prozesse gegeben ist. Der gesamte Prozess ist extrem intransparent. Insgesamt hat sich Lobbycontrol lange damit beschäftigt, diese Praxis offen zu legen und anzuprangern. Aufgrund dieser Prozesse werden auch die Abkommen an sich abgelehnt, wobei wir inzwischen insbesondere auf Teilaspekte dieser Abkommen schauen, allen voran die regulatorische Kooperation.


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abgeordnetenwatch.de | Auf der vom Verein Parlamentwatch getragenen Plattform können BürgerInnen ParlamentarierInnen befragen und u.a. deren anzeigepflichtigen Nebentätigkeiten einsehen.

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