Für die 1998 in Oslo geborene Andrea Berntzen markiert die Hauptrolle in „Utøya 22. Juli“ ihr Leinwanddebüt. Dafür wurde sie gerade mit dem Amanda Award als beste Darstellerin ausgezeichnet, dem wichtigsten norwegischen Filmpreis. Der Film von Erik Poppe, der in diesem Jahr auch im Wettbewerb der Berlinale um den Goldenen Bären konkurrierte, startet am 20. September in den Kinos.
engels: Frau Berntzen, Sie waren 13 Jahre alt, als das Massaker in Utøya 2011 passierte. Können Sie sich daran erinnern, wie Sie das damals wahrgenommen haben?
Andrea Berntzen: Als es passierte, wurde zunächst am meisten über die Bombenexplosion in Oslo gesprochen. Meine Mutter war zu dem Zeitpunkt in Oslo, weswegen ich sehr verängstigt war. Mit der Vorstellungskraft einer 13jährigen befürchtete ich, dass Atomwaffen zum Einsatz kommen und dass die ganze Stadt in Flammen aufgeht. In Wirklichkeit wurde in Oslo ja gar nicht so viel Schaden angerichtet. Aber als wir dann am nächsten Morgen in den Zeitungen von den Anschlägen in Utøya erfuhren und wie viele Menschen dort gestorben waren, und dass beide Anschläge von einem Menschen allein geplant und durchgeführt worden waren, war das für mich als 13jährige sehr erschreckend. Gleichzeitig war ich aber noch nicht reif genug, um zu erkennen, dass es sich dabei nicht nur um eine Zahl handelte, sondern hinter jedem Toten eine Person steckte. Das ist mir tatsächlich nun erst vollkommen bewusst geworden, als ich an diesem Projekt zu arbeiten begann.
Waren Sie schon einmal auf Utøya gewesen, bevor der Dreh zu diesem Film begann?
Ja, zum Zeitpunkt der Vorbereitungen und Proben waren wir auf der Insel. Große Teile des Films haben wir auf der Nachbarinsel gedreht. Als ich mir mit dem Regisseur zusammen Utøya anschaute, war ich zum ersten Mal auf der Insel. Was mich besonders überrascht hat, war die Tatsache, wie klein die Insel tatsächlich ist. Es dauert gerade einmal zehn oder zwölf Minuten, um die Insel zu Fuß zu durchqueren. Es gibt dort wirklich kaum Möglichkeiten, sich zu verstecken. Während wir dort waren, konnte man erkennen, wo Menschen erschossen worden waren, denn Angehörige hatten Fotos, Blumen und Teddybären an diesen Stellen platziert. Das ging mir sehr an die Substanz, dort zu sein und zu wissen, was da passiert war. Im Pumpenhaus, wo zwölf Menschen starben, sieht man in den Wänden und auf dem Boden noch die Einschusslöcher.
Der Name des Attentäters wird im ganzen Film nicht erwähnt, auch nicht in den Texteinblendungen am Ende. Wissen Sie, warum sich der Regisseur dazu entschieden hat?
Als Erik Poppe den Film drehte, hatte er das Gefühl, dass die meiste mediale Aufmerksamkeit Anders Behring Breivik zuteil geworden war, dem Attentäter. Es wurde über seinen Gerichtsprozess und seine Verurteilung berichtet, oder über die Idee einer Gedenkstätte auf der Insel. Alles drehte sich dabei aber immer um Breivik. Poppe wollte die Aufmerksamkeit wieder zurücklenken auf die Menschen, die von dieser Tragödie betroffen waren. Um das zu erreichen, mussten wir ihn einfach mal außen vor lassen und uns auf die Opfer konzentrieren.
Das ist Ihr erster großer Filmauftritt und Sie sind dabei fast ununterbrochen vor der Kamera zu sehen. War das nicht eine besonders große Herausforderung?
Ja, das war es in der Tat. Für mich hatte das aber sowohl Vor- als auch Nachteile. Hinsichtlich der Continuity war es einfach für mich, denn ich konnte ganz natürlich in die entsprechende Stimmung kommen. Das wäre viel schwieriger für mich gewesen, wenn wir nicht alles chronologisch gedreht hätten, sondern ich mich von Szene zu Szene in unterschiedliche Gemütszustände hätte bringen müssen, wie das bei Dreharbeiten ja oft der Fall ist. Andererseits war das eine wirklich intensive Dreherfahrung, bei der man die ganze Zeit hundertprozentig da sein musste. Wenn man nur einmal unkonzentriert ist und in die falsche Richtung schaut, hätte das den kompletten Dreh ruiniert. Das war schon beängstigend, da wir ja den ganzen Film am Stück ohne Schnitte gedreht haben. Die ersten fünfzehn Minuten waren für mich die schwierigsten. Das klingt komisch, aber wenn das ein Film über Kinder auf einer Insel geworden wäre, die einfach Spaß haben, den ganzen Film über, dann wäre es nicht so schwierig gewesen, das zu spielen. Aber für mich fühlte sich das alles sehr unnatürlich und konstruiert an, weil ich einen glücklichen Teenager spielen musste, der mit einem anderen Jungen flirtet, aber gleichzeitig wusste ich, dass sich zehn Sekunden später alles ändert, wenn die ersten Schüsse abgefeuert werden. Dann werde ich vom fröhlichen Teenager zu einem Menschen in Todesangst. Und alles spielt sich vor der Kamera ab, und ich habe keine Zeit, mich hinter die Kamera zurückzuziehen und mich auf die nächste Szene vorzubereiten. Das war für mich die größte Herausforderung.
Ich stelle es mir auch wirklich sehr schwierig vor, um die siebzig Minuten Film am Stück zu drehen. Wie oft haben Sie das im Vorfeld geprobt?
Wir haben ungefähr zwei Monate Probezeit gehabt, in der wir den ganzen Film in verschiedene Szenen unterteilt haben. An einigen Tagen war nicht nur Erik Poppe dabei, sondern auch der Kameramann Martin Otterbeck, damit wir uns an die Kamera gewöhnen konnten, denn wir alle waren ja Laien und hatten keinerlei filmische Erfahrung. Je näher wir dem Tag der Aufnahme kamen, desto mehr Szenen packten wir in chronologischer Reihenfolge aneinander, um uns auf das Filmen an einem Stück vorzubereiten. Aber insgesamt haben wir nur vier- oder fünfmal den ganzen Film an einem Stück probiert. Dann gab es fünf Drehtage, an jedem Drehtag haben wir eine komplette Version des ganzen Films am Stück aufgenommen.
Kaja ist, besonders für ihr Alter, eine sehr fürsorgliche und mutige Person. Könnten Sie sich vorstellen, in einer solchen Situation ähnlich wie sie zu reagieren?
Das ist eine sehr schwierige Frage. Als wir auf der Insel waren und drehten, machte ich mir meine Gedanken, wie ich reagieren würde, wenn ich von solch einem Terroranschlag betroffen wäre. Einige waren ja einfach nur geschockt, einige kümmerten sich nur um sich selbst, andere halfen auch anderen – jeder reagiert in einer solchen Situation anders. Ich weiß nicht wirklich, wie ich reagiert hätte, aber ich glaube nicht, dass ich wie Kaja reagiert hätte. Wir sind uns zwar in vielen Dingen sehr ähnlich, aber Kaja ist schon irgendwie perfekt. Sie ist sehr sportlich, fürsorglich und reif, da gibt es also schon Unterschiede zwischen uns.
Bevor die Anschläge beginnen, reden die Jugendlichen sehr viel über Politik miteinander. Konnten Sie sich damit gut identifizieren, sind Sie auch ein politischer Mensch?
Das ist ein großer Unterschied zwischen Kaja und mir, denn ich bin politisch nicht so engagiert wie sie. Während wir mit Proben zum Film beschäftigt waren, fanden in Norwegen gerade die Wahlen zum Ministerpräsidenten statt. Für mich waren es die ersten Wahlen überhaupt, da ich gerade neunzehn geworden war. Zusammen mit anderen Schauspielern des Films gingen wir dann gemeinsam zur Wahl, und ich gab zum ersten Mal meine Stimme ab. Das war für mich ein sehr spezieller Moment, auch hinsichtlich der Vorbereitung für meine Rolle. Sich mit seiner Stimmabgabe in die Gesellschaft einzubringen und seiner Meinung damit Ausdruck zu verleihen, das war für mich schon etwas Besonderes.
Erik Poppe ist einer der angesehensten Regisseure Norwegens. Wie war es für Sie, mit ihm zu arbeiten?
Ich war ja Laie, bin es immer noch, aber damals war ich noch weniger in die Filmindustrie involviert. Als ich vom Besetzungsbüro erfuhr, dass ein Film über Utøya gedreht werden soll und Erik Poppe Regie führen wird, hatte ich keine Ahnung, wer er ist. Aber immer, wenn ich Leuten davon erzählte, konnten sie es gar nicht glauben, deswegen realisierte ich dann auch irgendwann, dass er eine wichtige Person ist und dass der Film etwas Großes werden würde. Aber vielleicht war es für mich beim Vorsprechen auch hilfreich, dass ich keine allzu großen Hemmungen vor ihm hatte, da ich seine bisherigen Arbeiten nicht kannte. Ich konnte mich auf die Arbeit konzentrieren und war nicht durch seinen Promistatus eingeschüchtert. Wir haben dann sehr gut zusammengearbeitet, er ist ein fantastischer Regisseur und eine fantastische Person. Ich habe wirklich sehr viel von ihm gelernt.
Wollten Sie immer schon Schauspielerin werden?
Ich war schon immer sehr kreativ und wollte mich in Szene setzen. Als Kind schlüpfte ich in die Schuhe meiner Mutter mit den hohen Absätzen, zog ihre BHs an und stopfte sie mit Toilettenpapier aus oder führte meiner Familie Michael-Jackson-Shows vor. Es war schon immer meine Leidenschaft, aber keiner ging so recht darauf ein. Ich komme aus einer sehr akademischen Familie. Künstler zu sein wird dort nicht als Berufsmöglichkeit wahrgenommen, das ist eher etwas, was man nebenbei machen kann. Nachdem der Film nun angelaufen ist und sehr gut aufgenommen wird, erhalte ich auch in meiner Familie mehr Unterstützung. Das ist sehr aufregend. Im Mai habe ich gerade ein einjähriges Theaterstudium an der Romerike Folkehøgskole abgeschlossen. Ich kann mir schon sehr gut vorstellen, in diesem Beruf weiterzuarbeiten.
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