Keine Spiele mehr. Keine Bombenmusik, kein Laufen mehr durch den Schlamm zwischen Bühnen. Die Festivalsaison ist vorbei. Wir durften dieses Jahr vermeintlich lehrreiches über deutsche Feierkultur in Bochum erfahren, dass der schönste Headliner auch leise seien kann (wie Air beim Traumzeit-Festival in Duisburg) – nur weshalb sich Menschen auf Schalke versammeln, um Menschen beim Feiern in Belgien zuzusehen, das wird wohl ewig ein Rätsel bleiben. It‘s the madness in Germany.
Weniger rätselhaft ist die Frage, wer uns in den kalten Wintermonaten warme, musikalische Geborgenheit spendet. Die Antwort gibt eine immer wieder beeindruckende und doch viel zu weit unterm Radar fliegende Konzertreihe aus Bochum: Urban Urtyp. Seit 2010 bringen sie den Soundtrack der Stadt, oder besser: alle möglichen Soundtracks der Stadt in die Christuskirche. Wie klingt die Stadt? Nach allem. Aber vor allen Dingen spannend: Jazz und Minimal, Lyrik zu Techno-Bässen, Klassik und Experimentelle Musik, experimentelle Klassik – auf ein Genre lässt sich die Konzertreihe nicht festlegen. Wohl aber auf einen gewissen Vibe. Vor allen Dingen ist es der Flair der Großstadt bei Nacht, der hier lebendig wird, wie die herrlich melancholischen Cigarettes After Sex in der letzten Saison bewiesen haben. Dieses Jahr ist es der Vibe der schlaflosen Nächte, die Nächte mit erhöhtem Puls und hoher BPM-Zahl, die wir schmecken: Zum Beispiel am Sonntag den 25.9. um 19 Uhr, wenn es Kölner Electro von Coma und Numinos im obligatorischen Kubus zu hören gibt, den das Team alljährlich in der Kirche aufbaut. Das Urtyp-Team buddelt nach ihren Künstlern: Von Numinos finden sich nur wenige Songs im Internet. Und wenn, dann heißen sie „Eyjafjallajökull“. Mit dem titelgebenden Gletscher hat das fesselnde Stück aber nichts gemein, eher mit einer gewaltigen Maschine – konstruiert von einem genialen, detailverliebten Ingenieur. Wenn sie anspringt, greifen Bässe und Synthy-Sounds ineinander wie in einem perfekten Uhrwerk. Weitere Highlights: Sanfte, aber kitschfreie Indie-Musik von Girls in Airports, fünf dänischen Jungs, die den Fußstapfen von The XX folgend ihren eigenen Stil gefunden haben (4.12.). Und Hip-Hop-Beats mit Funk-Aroma live vom Flügel des Pianisten Leo Tardin, mit seinem Bandprojekt Grand Pianoramax am 13. November.
Bevor wir unser musikalisches Kirchenasyl für den Winter aufsuchen, gibt es aber noch einige letzte Open-Air-Events: Am 10.9. spielen K.I.Z. im Westfalenpark Dortmund. Die wohl einzigen deutschen Rapper, die nicht mit Klamottenwerbung Geld verdienen, werden laut eigener Aussage von führenden Kriegsverbrechern empfohlen – obgleich sie hinter einem Deckmantel aus Sarkasmus die intelligentesten und menschlichsten Texte im Deutschrap schreiben. Zumindest manchmal. Um 18.30 Uhr geht’s los. Hoffen wir, dass die Welt, anders als der Albumtitel „Hurra, die Welt geht unter“ verspricht, nicht untergeht. Hauptsächlich wegen Urban Urtyp, versteht sich.
Urban Urtyp mit Coma & Numinos | So 25.9. 19 Uhr | Christuskirche Bochum | www.urbanurtyp.de
K.I.Z. | Sa 10.9. 18.30 Uhr | Westfalenpark Dortmund | 01806 57 00 70
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