Die Uraufführung dieses Meilensteins des modernen Musiktheaters lehnte die Kölner Oper 1960 als unspielbar ab. Erst unter einer neuen Intendanz kamen „Die Soldaten“ fünf Jahre später zur Aufführung und traten ihren Siegeszug an. Nach dem künstlerischen Vakuum in der NS-Zeit knüpft der Kölner Komponist Zimmermann an innovative Konzeptionen der zwanziger Jahre an, um seine „pluralistische Form des Musiktheaters“ (Zimmermann) zu realisieren. Gemeint ist die Konzentration aller theatralischer Formen an einer eigens dafür geschaffenen omni-mobilen Raumbühne, die die klassische Guckkastensituation aufhebt: Der Zuschauer sitzt dem Geschehen nicht frontal gegenüber, sondern ist gestaffelt oder ringförmig mitten im Geschehen platziert, das sich simultan und sukzessive auf verschiedenen Spielflächen ereignet. Kipp-, Dreh- und Liegesitze ermöglichen dem Zuschauer Perspektiven zu wechseln, um dem Spiel folgen zu können. Bildende Kunst, Musik-, Sprech- und Tanztheater, Zirkus, Musical, aber auch technische Medien wie Film und Fernsehen werden zusammengeführt. Polystilistik prägt die musikalischen Ausdrucksmittel: Sprechen, Singen, Schreien, Flüstern, gregorianischer Gesang, Jazz und serielle Kompositionsmethoden. Für Zimmermann soll das Theater kein Stadttheater mehr sein, sondern eine komplexe „Theater-Stadt“, ein „Weltraumschiff des Geistes“, ein Ort geistiger und kultureller Freiheit, „ein elementarster Ort der Begegnung im weitesten Umfang“ – totales Theater.
Das Sturm-und-Drang-Schauspiel von Jakob Michael Reinhard Lenz aus dem Jahr 1775, auf das der Komponist zurückgreift, steht im scharfen Gegensatz zur klassizistischen Regelpoetik. Die Einheit von Zeit, Ort und äußerer Handlung ist aufgehoben, das Geschehen springt von Ort zu Ort, die zeitlichen Abstände der Szenen verdichten sich zur Simultanität. Zimmermann fand hier seine Konzeption von der „Kugelgestalt der Zeit“ widergespiegelt: Der Mensch nimmt die Zeit weniger sukzessiv als simultan wahr, die Gedanken an Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges fließen in den Augenblick ein und heben die lineare Zeitrechnung in der geistigen Wirklichkeit des Menschen auf. An dieser zeitlichen Vielschichtigkeit lehnt sich die pluralistische Kompositionstechnik an.
Filmschnittartig stehen die Szenen über den Niedergang eines Bürgermädchens nebeneinander: Marie wird von einem Offizier verführt, fallen gelassen und im Soldatenmilieu nach unten weitergereicht, bis sie als Hure auf der Straße endet. Lenz nannte das Stück eine Komödie, weil nicht der individuelle Charakter Maries sie scheitern lässt, sondern das Kollektiv: der Ehrgeiz des gewissenlosen Vaters und die verrohten Soldaten. Zimmermann, 1918 geboren, hatte als Soldat im Zweiten Weltkrieg sowohl an der West- als auch der Ostfront gekämpft und miterlebt, „wie alle Personen unentrinnbar in eine Zwangssituation geraten, unschuldig mehr als schuldig ...“ Die eigene Erfahrung des Grauens verband er mit einem Text, der weniger den Krieg als den Soldatenstand und die (Selbst-)Zerstörungskraft der Menschen fokussiert. „Zeit: gestern, heute und morgen“, hat er der Partitur vorangestellt, am Ende fordert er eine Filmeinblendung: die „Wolke des Atompilzes“.
Wo zu sehen in NRW?
Oper Köln im Staatenhaus | R: Carlus Padrissa | 29.4.(P), 3.,11., 17.5. 19.30 Uhr, 13.5. 16 Uhr, 20.5. 18 Uhr | 0221 221 28 400
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Besiegt Vernunft die Leidenschaft?
„Orlando“ an der Oper Köln – Oper in NRW 11/24
Die Gefahren der Liebe
„Die Krönung der Poppea“ an der Oper Köln – Oper in NRW 05/24
Ein Schluck auf die Liebe
„Der Liebestrank“ an der Oper Köln – Oper in NRW 11/23
Lynchmord in New Orleans
Uraufführung von „The Strangers“ an der Oper Köln – Oper in NRW 09/23
Komplexer Märchenstoff
„Die Frau ohne Schatten“ in der Oper Köln – Oper in NRW 08/23
Bedrohung aus dem Inneren
Uraufführung von „La bête dans la jungle“ an der Oper Köln – Oper in NRW 04/23
Des Seemanns Apokalypse
„Der fliegende Holländer“ an der Oper Köln – Oper in NRW 03/23
Verblendete Väter
„Luisa Miller“ an der Oper Köln – Oper in NRW 02/23
Triumph der Güte
„La Cenerentola“ an der Oper Köln – Oper in NRW 12/22
Verkannte Liebe
„Der Zwerg / Petruschka“ an der Oper Köln – Oper in NRW 11/22
Liebe und Göttliche Aufträge
„Les Troyens“ an der Oper Köln – Oper in NRW 09/22
Im Stil der Commedia dell‘arte
„Il Barbiere di Siviglia“ an der Oper Köln – Oper in NRW 06/22
Unerwartet Kaiserin
„Der Kreidekreis“ in Düsseldorf – Oper in NRW 11/24
Horror und Burleske
Die Spielzeit 24/25 am Gelsenkirchener MiR – Oper in NRW 07/24
Opern-Vielfalt am Rhein
„Nabucco“ eröffnet in Düsseldorf die Spielzeit 2024/25 – Oper in NRW 06/24
„Kritische Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit“
Kapellmeister Hermes Helfricht über Werner Egks „Columbus“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 06/24
Welt ohne Liebe
„Lady Macbeth von Mzensk“ am Theater Hagen – Oper in NRW 05/24
Absurde Südfrucht-Fabel
„Die Liebe zu den drei Orangen“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 04/24
Grund des Vergessens: Rassismus
Oper von Joseph Bologne am Aalto-Theater Essen – Oper in NRW 03/24
Verpasstes Glück
„Eugen Onegin“ in Bonn und Düsseldorf – Oper in NRW 02/24
Täuschung und Wirklichkeit
Ein märchenhafter Opern-Doppelabend in Gelsenkirchen – Oper in NRW 02/24
Unterschätzte Komponistin?
„Der schwarze Berg“ an der Oper Dortmund – Oper in NRW 01/24
Geschlossene Gesellschaft
„Flight“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 01/24