Über ihnen rauscht der Zug vorbei, als sie sich verabschieden. Sie kippen noch eine letzte Runde Synth-Storm auf den erfolgreichen Tag. Dieses Datum wird in die Geschichte eingehen. Oder zumindest die Ereignisse, die sie losgetreten haben. Die riesigen Bildschirme an den Gebäudefronten verkünden den Tod des Diktators. Die Bilder des Nachrichtensprechers wechseln sich ab mit Aufnahmen ihrer Aktionen. Cloud, der in das Büro des Despoten eindringt, der erst auf Knien um Gnade winselt, dann aber hinterhältig nach einer Waffe greift, was sein Schicksal besiegelt. Edges Revolver war schneller. Dann Alita, die erfolgreich eine Revolte im Gefängnis anführt. Gegen die Masse der politischen Gefangenen haben die Wächter keine Chance. Und schließlich Edge, der eine neue Ära der Demokratie verkündet. Seine Botschaft erreichte dank eines Hacks in den Gov-Trojaner die Kommunikatoren aller Bewohner von Night Liberty City. Technologie solle die Menschen frei machen, sagte er, nicht sie überwachen. So wie er alle Menschen erreiche, so breche der Cyberspace auch ihre Barrieren auf, egal, ob sie in den Slums unter den Speedways leben oder in den Penthouses von Vertica.
Logout an der Botschaft
Als sie schließlich gehen, fliegen Edge, Alita und Cloud von nahezu allen Passanten Daumen, Herzen und Kudos zu. Ihr Weg ist gesäumt von messbarer Achtung, die LED-Bildschirme sind die Banner ihres Triumphes, die Luft knistert vom Geist der Freiheit. Mit Blick auf die dahinrasenden Fahrzeuge auf dem langen Band des Speedways, in einer dreckigen Gasse zwischen zwei Neonlichtcontainern oder mitten auf dem Gelände der Botschaft der United Ads loggen sie sich aus.
Edge setzt sein Headset ab. Graues Licht fällt durch das Fenster in sein Zimmer. Jetzt aber los, zur Berufsschule. Er macht sich fertig und verlässt kurze Zeit später die Wohnung. Als er durch die backsteinerne Arbeitersiedlung zur Bahnhaltestelle läuft, erhellen keine Bildschirme seinen Weg. Der Haltestopp leuchtet nicht neonfarben, sondern natriumdampfgelb. Einzig der Name der Haltestelle, Man Turbo, hat etwas von Night Liberty City, der Stadt im Betaversum, die er heute Nacht gerettet hat. Statt haufenweise Likes fliegen Edge nur flüchtige Blicke zu. Außer ihm warten nur ein offensichtlicher Alkoholiker und ein Schwarzer auf die Bahn. Letzterer ist Edge suspekt, warum, weiß er nicht. In NLC ist Edge selbst ein Schwarzer. Die Stadt, in der er den Tag verbringt, hat zweihunderttausend Einwohner und ist Teil einer Agglomeration. Einer Agglomeration aus Hoffnungslosigkeit, Verfall und Rückständigkeit.
Verfall und Hoffnung
Edge, der tagsüber Jonas heißt, fährt rund eine Stunde und steigt zwei Mal um, ehe er in der zwölf Kilometer entfernten Berufsschule ankommt. Dort darf er seinen Lehrern die halbe Unterrichtsstunde lang erklären, wie man die E-Learning-Plattform bedient. Klicken Sie jetzt auf den Button „Dateien hochladen“. Direkt unter den Buttons „Umfrage starten“, „Lernleistungen in Echtzeit abrufen und automatisch individuelle Lernpfade erstellen“, „KI-gestützte Multimedia-Lerneinheiten generieren“, diese Buttons, die Sie nie benutzt haben, nie benutzen werden, und die auszuprobieren sie sogar Angst haben. Am Nachmittag fährt er wieder dreißig Minuten zur Stadtverwaltung, tackert irgendwelche Zettel zusammen. Außerdem füllt er zwei Fragebögen aus, einen zur Mitarbeiterzufriedenheit und einen zur Digitalisierung in der Verwaltung. PDFs gespeichert, gemailt, weitertackern. Kurze Zeit später erhält er zwei E-Mails zurück, er solle die Fragebögen bitte ausdrucken und per interner Post zuschicken, damit sie eingescannt werden können.
Zu wenige politische Gefangene
Bei Alita ist es Nachmittag. Bis ihre Nachtschicht anfängt, ist es noch Zeit, sie legt sich schlafen. Schließlich verwandelt sich die Gegend vor ihrem Fenster in das Land der aufleuchtenden Neonreklame. Alita, die jetzt Sakura heißt, zwängt sich in einen vollen Fahrstuhl, läuft eine bevölkerte Straße entlang und quetscht sich in einen vollen Zug. Niemand sagt ein Wort, nur hier und da plärrt eine laute Werbebotschaft aus irgendwelchen Lautsprechern. Ihr gesamter Weg ist gesäumt von Bildschirmen, doch keiner zeigt ihr Gesicht, zeigt keine Heldentaten. Stattdessen sieht sie Männer aus der Politik, die ihre Versprechen verlautbaren, und Männer aus der Wirtschaft, die die Projekte ihrer Freunde aus der Politik unterstützen, und Frauen, die die Produkte der Männer aus der Wirtschaft dekorieren. Allein für das Veröffentlichen von politischen Interna würden Sakura in ihrem Land bis zu zehn Jahre Haft drohen. Noch sind die Gefängnisse nicht voll genug mit politischen Gefangenen, als dass sie eine Revolte anzetteln könnte wie in NLC. Noch nicht, denkt Sakura, steigt aus der Bahn und betritt das Krankenhaus. Die gesamte Schicht lang wird sie mit den anderen Schwestern nicht über Politik sprechen. Sie wird überhaupt nicht nach ihrer Meinung gefragt werden.
Wie Demokratie funktioniert
Bei Cloud alias Brandon war es Nacht, als er das Betaversum verließ. Jetzt steht er auf der Wiese hinter seinem Haus und schießt mit einem echten Revolver auf echte Pappkameraden, denen er Portraits echter Politiker aufgeklebt hat. Politiker aus einer weit entfernten Hauptstadt. Überhaupt ist alles weit entfernt, auch der nächste Nachbar. Brandon nimmt das ausgedruckte Foto in die Hand. Es hat ein Loch zwischen den Augen. Mein Stimmzettel, denkt er zufrieden, anders funktioniert Demokratie nicht. Weder in Night Liberty City noch hier.
MUNDWERK - Aktiv im Thema
ccc.de | Der zu Beginn der 80er Jahre gegeründete Chaos Computer Club ist als „größte europäische Hackervereinigung“ etabliert als Kritiker von Computersicherheit und Datenschutz.
upload-magazin.de/43774-smart-cities | Der Upload-Beitrag wägt anhand konkreter „Smart City“-Projekte ab, wie die Digitalisierung Datenschutz und Privatsphäre gefährdet und soziale Ungerechtigkeiten verstärken kann.
zeitschrift-suburban.de/sys/index.php/suburban/article/view/455/718 | Suburban-Rezension zum von Sybille Bauriedl und Anke Strüver herausgegebenen Sammelband „Smart City. Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten“.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@engels-kultur.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Stimmen machen Stimmung
Intro – Mundwerk
Hinter vorgehaltener Hand
Freiheit in der smarten Stadt – Teil 1: Leitartikel
„Eine Stadt muss eine Idee haben“
Zukunftsforscher Klaus Burmeister über zukunftsfähige Städte – Teil 1: Interview
Das Tal wird digital
Wuppertal unterwegs zur Smart City – Teil 1: Lokale Initiativen
Gentrifizierung auf Griechisch
Investoreninteressen und staatliche Repression im Athener Stadtteil Exarchia – Teil 2: Leitartikel
„Anonymität ist das, was Großstadt ausmacht“
Soziologe Daniel Kubiak über gesellschaftliche Vielfalt in der Großstadt – Teil 2: Interview
Wieder selbstbestimmt leben
Kölns interkulturelles Zentrum Zurück in die Zukunft e.V. – Teil 2: Lokale Initiativen
Kultur ist für alle da
Von gesellschaftlicher Vielfalt auf und vor den Bühnen – Teil 3: Leitartikel
„Wichtig ist, dass es auch kleine Bühnen gibt“
Kulturwissenschaftlerin Simone Egger über die gesellschaftliche Rolle von Kunst und Kultur – Teil 3: Interview
Protest und Marketing
Florian Deckers erforscht Graffiti im öffentlichen Raum – Teil 3: Lokale Initiativen
Digitale Bedürfnisse
Das Konzept Smart City – Europa-Vorbild: Finnland
Schlechte Zeiten: Gute Zeiten
Die Macht der Nostalgie – Glosse
Spielend ins Verderben
Wie Personalmanagement das Leben neu definierte – Glosse
Ode ohne Freude
Gedanken zur EU – Glosse
Sinnenbaden im Meer
Ode an das Meer – Glosse
Blutige Spiele und echte Wunden
Gewalt in den Medien: Ventil und Angstkatalysator – Glosse
Gib mir Tiernamen!
Wie sich die Natur schwuppdiwupp retten lässt – Glosse
Nur die Lokomotive
Verloren zwischen Bett- und Lebensgeschichten – Glosse
Der heimliche Sieg des Kapitalismus
Wie wir vergessen haben, warum wir Karriere machen wollen – Glosse
Im Sturm der Ignoranz
Eine Geschichte mit tödlichem Ausgang – Glosse
Märchenspiegel 2.0
Vom Streben nach konformer Schönheit in feministischen Zeiten – Glosse
Von der Barbarei der Debatte
Natürlich kann man vermeiden, dass irgendwer Dinge hört, gegen die er allergisch ist – Glosse
Staatsmacht Schicht im Schacht
Mögen Körperflüssigkeiten den Parlamentarismus retten – Glosse
Neidischheit und Geiz und Reichheit
Die Reichen sind geizig und die Armen neidisch. Klare Sache? – Glosse
Der Beverly Hüls Cop
Warum Gewaltenteilung, wenn es nur eine Gewalt braucht? – Glosse