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Daniel Kubiak
Foto: Andreas Goroncy

„Anonymität ist das, was Großstadt ausmacht“

30. Mai 2023

Soziologe Daniel Kubiak über gesellschaftliche Vielfalt in der Großstadt – Teil 2: Interview

engels: Herr Kubiak, Sie arbeiten an dem Forschungsprojekt „Räume der Migrationsgesellschaft“. Welche Räume sind damit gemeint?

Daniel Kubiak: Uns interessiert vor allem die Verräumlichung von Phänomenen der Migration, Integration, von Konflikten und Rassismus. Wenn wir über Räume sprechen, gehen wir davon aus, dass Gesellschaft vor allem über Narrative, also sinnhafte Erzählungen, funktioniert, und dass auch Räume so hergestellt werden. Wir grenzen den Begriff „Raum“ also von dem des Ortes ab, meinen nicht einen Ort wie „Duisburg-Marxloh“, sondern wir sehen uns an, wie über diesen Ort gesprochen wird und wie durch dieses Sprechen über einen Ort ein Raum hergestellt wird. Das ist natürlich gerade für eine Migrationsgesellschaft spannend, da es sehr viele Erzählungen über bestimmte Räume gibt. Man kann etwa an Berlin-Neukölln denken, man kann an die Dortmunder Nordstadt denken, an Offenbach, an Stuttgart-Untertürkheim, die Leipziger Eisenbahnstraße oder Halle-Neustadt.Was uns interessiert ist, wie die Erzählung über Räume beeinflusst, wie man sich in diesen Räumen aufhält, besonders wie es Menschen geht, die eine Migrationsgeschichte haben. Aus diesem Grund haben wir uns angesehen, wie sich rassistische Anschläge auf Räume der Migrationsgesellschaft auswirken – was passiert, wenn es dort einen Anschlag gab. Wie wird mit diesem Raum dann umgegangen: wird er gemieden, entstehen dort Denkmäler? Die andere Frage – auf die wir noch keine Antwort haben – ist, ob Räume selbst rassistisch sein können. Unsere Annahme lautet: Wenn über Räume eine Erzählung hergestellt wird, dann können auch Räume in gewisser Weise rassistisch wirken, weil die Darstellung eines Raumes schon so wirken kann, dass Menschen sich dort unsicher fühlen. Man denke etwa an die national befreiten Zonen in manchen ostdeutschen Regionen der 1990er Jahre. Das ist natürlich eine rassistische Raumerzählung.

Die Frage ist, ob Räume selbst rassistisch wirken können“

Wie gehen sie vor?

Wir sind qualitative Sozialforscher in einem interdisziplinären Forschungsteam – dazu zählen Soziolog:innen, Sozialpsycholog:innen und auch Geograph:innen, die mit einem starken Raumverständnis herangehen, sowie Ethnolog:innen. Innerhalb der Sozialforschung gibt es zwei Paradigmen: die quantitative Sozialforschung würde mit Fragebögen arbeiten, Leute auswählen und dann anhand von Zahlen signifikante Ergebnisse heranziehen. Wir bewegen uns im qualitativen Forschungsparadigma, das heißt wir führen auch Interviews, aber biographische Interviews, Experteninterviews. Der ethnographische Ansatz ist die teilnehmende Beobachtung, das heißt, wir halten uns in diesen Räumen auf und beobachten: Was passiert in diesen Räumen, wie werden bestimmte Sachen ausgehandelt. Interessant ist zum Beispiel, welche politischen Inhalte durch Aufkleber, politische Plakate, Bemalung von Häusern und Denkmäler dargestellt werden. Darum werden wir uns im weiteren Verlauf auch mit narrativen Interviews auseinandersetzen, also die Leute bitten, uns ihre Geschichte zu erzählen, ohne dass wir viel nachfragen. Um dann zu fragen, warum erzählt diese Person ihre Geschichte, ihre Biographie auf diese Weise, wie sind bestimmte Punkte in der Biographie theoretisch erklärbar. Was unsere Geographen auch machen, ist ein Mapping. Es gibt bereits relativ viele Karten, die rassistische Anschläge auf Landkarten festhalten. Da sieht man dann, dass in Berlin etwa fünfzehn Menschen durch rassistisch motivierte Morde umgekommen sind, in Magdeburg sind es drei, in Hanau neun, in Rostock ist es einer. Davon gibt es einige Karten, weshalb uns interessiert: Wer sind die Initiativen und Vereine, die diese Karten erstellen? Warum tun die das, wo sitzen die und wie ist deren Förderstruktur? Es ist also eine Mischung verschiedener Methoden, das ist unserem interdisziplinären Ansatz geschuldet.

Ein Nebeneinander von Anonymität und räumlicher Enge“

Die Großstadt ist der Raum, den man mit „Multikulti“ am ehesten verbindet. Warum ist sie so stark mit kultureller Vielfalt verbunden?

„Multikulti“ ist ein Begriff, den wir nicht verwenden würden – wir würden von „Migrationsgesellschaft“ oder „postmigrantischer Gesellschaft“ sprechen. Diese Begriffe meinen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die anerkannt hat, dass sie eine Einwanderungsgesellschaft ist. Migration wird dann zu einem Querschnittsthema unter vielen, um Gesellschaft zu erklären. Warum sind bestimmte Räume überhaupt so markiert, dass sie für die Migrationsgesellschaft relevant sind, warum sind andere das nicht? Der ländliche Raum etwa wird so gar nicht mit Migration assoziiert, dabei zeigen Zahlen, dass gerade Geflüchtete – die also für gewöhnlich nicht frei in ihrer Entscheidung sind, wo sie hingehen – sehr oft erstmal im ländlichen Raum angesiedelt wurden. Es gibt also auch eine Migrationsgesellschaft im ländlichen Raum, aber es gibt keine Debatten darüber. Ich glaube, das hat auch ein wenig mit den Funktionen der Stadt allgemein zu tun: Als Soziologe sehe ich „Stadt“ als eine Kategorie, die schon immer mit Mobilität verbunden war und zwar immer in die Städte hinein. Das ist eine 200 oder 300 Jahre alte Entwicklung und hat mit der Industrialisierung und Modernisierung zu tun. Dass in den Städten eine gesellschaftliche Aushandlung stattfindet, hat erstmal gar nichts mit internationaler Migration zu tun. Georg Simmel, ein Begründer der Soziologie, beschrieb Anfang des 20. Jahrhunderts diese starke soziale Struktur in dörflichen Zusammenhängen, in der jeder jeden kennt, in der es große soziale Kontrolle und wenig Freiheit im öffentlichen Raum gibt – die gibt es aber eben dafür in Städten. Er beschreibt es eigentlich sehr schön: Wenn man in der Stadt im öffentlichen Nahverkehr sitzt und Menschen gegenübersitzt, ist der Moment, in dem man einem Menschen historisch erstmals physisch nahe ist, sich aber nicht mit ihm unterhält. Genau das macht Städte aus: Dass sie sehr viele Menschen auf engem Raum zusammenbringen, so dass ein Nebeneinander von Anonymität und räumlicher Enge entsteht. Es ist auch gar nicht verwunderlich, dass Menschen, die aus Arbeitsgründen kommen, sich dort ansiedeln, wo die Arbeitsplätze sind. Das ist eine historische Erklärung, warum wir vor allem in Großstädten über Migrationsgesellschaft nachdenken. Natürlich passiert dort auch mehr: Wenn es Konflikte gibt, finden die in Großstädten häufiger statt. Die finden sich auch im ländlichen Raum, aber so vereinzelt, dass sie medial nicht wahrgenommen werden, weil wir über sie nicht sprechen.

Was bedeutet „postmigrantisch“?

Postmigrantisch heißt nicht, dass wir über eine Gesellschaft nach der Migration reden, sondern über eine Gesellschaft nach der Anerkennung, dass sie eine Einwanderungsgesellschaft ist. In Deutschland ist diese symbolische Anerkennung Anfang des Jahrhunderts durch die Reform des Staatsbürgergesetzes durch die damalige rot-grüne Regierung erfolgt. Ebenso wirkte die Rede von Christian Wulff mit dem Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“, auch das war eine symbolische und politische Anerkennung. Das ist aber ein Diskurs, der sehr stark mit der westdeutschen Gesellschaft verbunden ist, und es gibt immer noch die Behauptung, dass das für die ostdeutsche Gesellschaft nicht zutrifft. Die sei keine Einwanderungsgesellschaft gewesen, weil es nur sehr wenige Menschen mit Migrationsgeschichte gab. Es waren allerdings genauso viele Menschen, die hauptamtlich für das MfS gearbeitet haben, über die wurde sehr viel gesprochen und geforscht. Es gab also auch in der DDR eine Migrationsgesellschaft, aber diese war stark segregiert,, zumindest mit Blick auf ausländische Gastarbeiter:innen und Studierende. Das heißt, sie waren da, sind aber nicht wahrgenommen worden – maximal am Arbeitsplatz. Das hat sich nach der Wende fortgesetzt. Durch den statistischen Anstieg beginnt man jetzt in einem wissenschaftlichen Diskurs und auch in einem sehr kleinen öffentlichen Diskurs, über die Einwanderungsgesellschaft in Ostdeutschland zu reden. Das ist sehr wichtig.

Wie schnell haben alle die gleichen Rechte?“

Was bewirkt diese Anerkennung?

In dem Moment, in dem man anerkennt, dass man eine Einwanderungsstadt ist, muss man auch Politik verändern. Funktionierende Ausländerbehörden sind etwa unglaublich relevant für Großstädte. Einen deutschen Pass beantragen zu können ist in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern ein sehr schwieriger bürokratischer Prozess, der an hohe Hürden gebunden ist. Wenn zudem die Verwaltung nicht gut funktioniert, ist das ein Nachteil für die Stadt selbst. Denn in Hinblick auf diesen Diskurs „wir brauchen Einwanderung aus ökonomischen Gründen“ sind diejenigen, die einen Pass beantragen, eigentlich die, die man sofort haben wollen müsste. Unsere empirischen Daten zeigen uns aber, dass es da große Unterschiede gibt, etwa zwischen Braunschweig und Magdeburg: Während es in Braunschweig gut sechs Monate dauert, einen Pass zu beantragen, wird in Magdeburg von drei Jahren gesprochen. Das interessante in Magdeburg ist, dass dort nun Intel angesiedelt werden soll und die Stadt versucht viele Dinge in Bewegung zu bringen, um diese gewollte internationale Migration der Hochgebildeten, die dann bei Intel arbeiten wollen, zu ermöglichen. Deswegen wird nun eine „Fast Lane“ für Intel-Mitarbeiter geschaffen, die bei der Ausländerbehörde bevorzugt behandelt werden. Daran sehen wir zum Beispiel, wie Großstädte durch Migration verändert werden. Stadtpolitik darf dabei aber eben nicht mehr nur auf die Migration sehen, sondern muss auch andere Fragen berücksichtigen, die sich durch diese Anerkennung verändern. Dann hat man eben Schulklassen, in denen nicht alle Schüler Deutsch als Muttersprache haben, man hat verschiedene Religionen in Schulklassen, dann sollte eben nicht mehr nur die Weihnachtsfeier, sondern auch der Ramadan ein Thema sein. Dann ist es ein Problem, wenn Abiturprüfungen am Tag des Zuckerfestes angesetzt sind, einem der wichtigsten muslimischen Feiertage. Das sind Dinge auf die sich die Städte einstellen müssen, wenn sie anerkennen, dass sie Einwanderungsstädte sind. Menschen mit Migrationsgeschichte leben bereits in dritter und vierter Generation hier. Das heißt, die ganzen Fragen die sich um Teilhabe, Repräsentation, Anerkennung, kulturelle Werte und Normen drehen, haben im Grunde nichts mehr mit Migration zu tun, sondern es handelt sich einfach um gesellschaftliche Fragen einer deutschen Großstadt im Jahr 2023.

Wie viele Leute, die promoviert haben, haben Freunde, die an der Kasse arbeiten?“

Wie fördert der städtische Raum die Integration verschiedener Kulturen?

Wenn man Integration als einen Prozess versteht, bei dem es darum geht, dass in einer Gesellschaft alle die gleichen Teilhabechancen haben, dann spielt die Ausländerbehörde eine ganz große Rolle – denn sie ist etwas, mit dem nur die Leute Erfahrungen machen, die nicht die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Das sind Erfahrungen, die die autochthone Mehrheitsgesellschaft überhaupt nicht kennt – wie man dort behandelt wird, was es für Anforderungen gibt, das ist ein Wissen, dass nur Menschen haben, die keinen deutschen Pass haben. Die Kriminalitätsstatistik ist ja immer wieder ein Thema – da ist es interessant zu wissen, dass es viele Kriminalitätsakte gibt, die nur von Ausländer:innen begangen werden können, weil sie gegen Ausländerrecht verstoßen. Die können von deutschen Staatsbürger:innen gar nicht begangen werden. Deswegen ist der Blick auf Verwaltung wichtig, vor allem für die Frage, wie schnell haben alle die gleichen Rechte in diesem Land. Dann gibt es andere Aspekte, die verbunden sind mit kultureller und sozialer Integration –, dass man die Sprache spricht, dass man Freunde aus verschiedenen Schichten hat, dass man Mitglied von Vereinen ist. Das kann aber auch bedeuten: Wie viele Leute, die promoviert haben, haben eigentlich Freunde, die bei Edeka an der Kasse arbeiten? Auch das ist eine Frage von kultureller Integration, nämlich zwischen den ökonomischen Schichten.

Was erschwert Integration?

Begegnungsräume spielen eine große Rolle und ein Problem in Großstädten ist, dass diese öffentlichen Begegnungsräume abnehmen, kleiner werden. Es gibt relativ große wissenschaftliche Forschungsbereiche, in denen es um die Kapitalisierung von Großstädten geht: Es gibt viele Orte in der Großstadt, an denen man sich aufhalten darf, wenn man dafür bezahlt. Wenn man Geld für den Biergarten, das Straßencafé oder die Straßenbahn hat, kann man diese Räume nutzen. Die öffentlichen Orte, an denen man einfach nur sein darf, nehmen ab. In Berlin gibt es einen Weihnachtsmarkt auf dem Gendarmenmarkt, einem öffentlichen Platz, der 300 Tage im Jahr öffentlich und kostenlos zugänglich ist, aber an 60 Tagen muss man dafür Eintritt zahlen. Das ist die Kapitalisierung des öffentlichen Raumes. Das andere Problem öffentlicher Räume ist die Annahme, dass sie dann sicher sind, wenn sie überwacht werden. Auf der Kölner Domplatte gibt es wahrscheinlich keinen Ort mehr, an dem man von Kameras unbeobachtet ist. Manche Gruppen wollen aber nicht überwacht werden, etwa Jugendliche. Wir haben die Kapitalisierung und die Überwachung des öffentlichen Raums, die diese Begegnungsorte im Öffentlichen sehr stark zurückdrängen. Das heißt, Begegnung findet vor allem im privaten Raum oder im halböffentlichen Raum statt – in Sportvereinen, im Theater, bei Musikveranstaltungen und natürlich in der Schule. Die Schule ist einer der wenigen Orte, an dem alle gesellschaftlichen Schichten zusammenkommen und aufeinandertreffen. Das ist interessant, weil es vor allem Kinder und Jugendliche sind, die überhaupt noch eine starke Integration erleben, weil die Eltern an ihren Arbeitsplätzen, je nachdem, wieder eine Entmischung erleben.

Parallelgesellschaften gibt es als kulturelle Dimension“

Wie verhält es sich mit Aus- und Abgrenzung oder mit der sogenannten Ghettobildung?

Mir ist eine Sache ganz wichtig: Ghettos gibt es in Deutschland nicht. „Ghetto“ ist ein Begriff, der in der soziologischen Forschung ganz klar definiert ist, nämlich als durch klare Grenzen abgegrenzte Räume in einer Stadt – meistens in Städten – bei denen ganz klar ist: Wenn ich diese Grenze übertrete, bin ich im Ghetto. De Begriff kommt von dem jüdischen Ghetto in Venedig, war auch lange Zeit dezidiert mit jüdischen Ghettos in europäischen Städten verbunden, und ist dann in dieser amerikanischen Debatte auch für Phänomene dort genutzt worden. Ich war selbst in Detroit – man überquert die 8 Mile, über die Eminem gesungen hat, und es ist wirklich sichtbar, dass man in einem anderen städtischen Kontext ist. Diese Bedingungen gibt es empirisch gesehen in keiner deutschen Großstadt, das ist zumindest stadtsoziologischer Konsens. Was es auch gibt, ist diese Diskussion über Parallelgesellschaften und auch hier würde ich argumentieren, dass in Deutschland keine existieren. Auch die sind klar definiert und bedeuten, dass man in entscheidenden politischen Dimensionen tatsächlich parallel funktionierende Strukturen hat – und das finden sie in Deutschland weder auf der Ebene der Politik, noch der Justiz. Eine politische Parallelgesellschaft gibt es in Deutschland nicht, denn alle, die deutsche Staatsbürger sind, können wählen und es gibt kein politisches Parlament, das parallel zum Bundestag arbeitet. Auch parallele Rechtsstrukturen gibt es in Deutschland nicht. Es gibt zwar den Begriff des „Ehrenmordes“, durch den in familiären Strukturen – in Anführungszeichen – „Recht“ gesprochen wird, aber das ist ja keine Rechtsprechung im klassischen Sinn und eher ein Randphänomen. Im Großteil aller Rechtsfragen, behält der Rechtsstaat die Kontrolle. Was es durchaus gibt, sind ethnische Ökonomien. Ich kann in Berlin-Kreuzberg in jede mögliche Form eines Geschäfts gehen – Lebensmittelmärkte, Reisebüros, Friseure - und dabei mit einer türkischsprachigen Ökonomie interagieren. Ich kann mich in Deutschland bewegen und kann eigentlich nur türkisch konsumieren. Diese Bedingungen finden wir in einigen Städten vor und man kann fragen, ob das nun wirklich problematisch ist. Ich würde sagen – nein.

Von „Parallelgesellschaften“ ist in Debatten oft als Schreckgespenst die Rede. Aber ist eine gruppenbezogene Anonymität in der Großstadt nicht ohnehin der Normalfall?

Das ist so und ich würde es als überhaupt nicht problematisch bezeichnen. Parallelgesellschaften gibt es ja auch als kulturelle Dimension: Manche Leute gehen in Berlin nur auf Punk-Konzerte und bewegen sich ausschließlich in der entsprechenden Community. Sie können sich ausschließlich unter Punks bewegen und in diesem Land leben, ohne sich jemals mit einer anderen Kultur auseinandersetzen zu müssen. Man kann sich ausschließlich mit muslimischen oder christlichen Menschen umgeben, auch das ist weitgehend unproblematisch. Darum ist auch „Parallelgesellschaften“ eigentlich nicht der richtige Begriff. Was man damit ja eigentlich sagen will, ist, dass es eine Form von Segregation gibt. In Berlin-Kreuzberg wählen über 80 Prozent der Bewohner:innen Links, Grün oder SPD. Da lebt eine bestimmte Gruppe von Leuten, die teilen eine politische Vorstellung der Welt, die sind da unter sich. Wenn die nach Brandenburg kommen, kommen sie in eine andere Welt. Der Begriff der Segregation trifft das eigentlich ganz gut. Die „Anonymität der Großstadt“ ist genau das, was Großstadt ausmacht: Man kann in einer Großstadt im Privaten anders sein, als im öffentlichen Raum, man kann im öffentlichen Raum sein, wie man will, weil sich dort sehr viele Menschen bewegen. Das Klischee der Blasiertheit des Großstädters liegt genau darin: Ich kann mich nicht durch Berlin bewegen und mich jedes Mal damit auseinandersetzen, dass der eine einen Irokesenschnitt hat, die andere ein Kopftuch trägt und der da wiederum einen Anzug. Würde ich das nicht filtern, würde ich gar nicht damit klarkommen, also muss ich Leute sein lassen, wie sie sind, um in der Großstadt leben zu können. Das ist etwas, das Großstadt unbedingt auszeichnet, und das ist auch der Grund, warum viele Menschen, die Diskriminierung erleben, sich für ein Leben in der Großstadt entscheiden, denn dort fallen sie weniger auf.

 

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Interview: Christopher Dröge

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