Der Neue Zirkus findet nicht mehr in Zelten statt, sondern hat sich auf der Bühne etabliert und mit Theater, Tanz, Performance vermischt. Die Köln-Freiburger Performer HeadFeedHands haben vor einigen Monaten mit ihrem Stück „Alle 4 Minuten“ gezeigt, wie gut das geht. Es war also nur eine Frage der Zeit, wann ein zeitgenössischer Choreograf diese artistischen Elemente aufgreift und für den zeitgenössischen Tanz nutzbar macht. Nicht umsonst sprechen Seilartisten von ihrer Arbeit auch vom ‚danse verticale‘.
Die Kölner Choreografin Stephanie Thiersch hat mit ihrem neuen Stück „Corps Étrangers“ (Fremdkörper) nun den Versuch unternommen, Boden- und Seilartisten mit Tanz in einem Stück zu verbinden – und ist genau dort hängen geblieben, wo der Neue Zirkus seine Vorteile gegenüber dem Tanz ausspielen kann: Bei seinem Unterhaltungswert, dem Nervenkitzel, den seine Aktionen über den Köpfen des Publikums auslösen, den Aha-Effekten einer frappierender Bodenakrobatik.
Natürlich ist der Choreografin bewusst, dass dies für eine anspruchsvolle Tanzperformance zu wenig ist. Schließlich gilt gerade Stephanie Thiersch als die Intellektuelle unter den Choreografen. Also sucht sie in die Tiefen der menschlichen Seele vorzudringen, um dort nach den Resten eines lustvollen Erinnerns ans Archaische zu forschen. Sie findet sie in der kindlichen Lust des Verkleidens, dem Aberglauben, der Wildheit. Konkret stellt sie mit eingeblendeten Zwischentiteln, die den Abend gliedern, Fragen nach der Moderne und der Entzauberung der Welt, die sie zu der Behauptung führen: Wir sind nie modern gewesen. Ein Programm-Zitat zum Animismus (Religionsbegriff archaischer Kulturen) gibt zwar die Richtung vor, doch ritual anmutende Gruppentänze und akrobatische Aktionen bleiben schlichtes Dekor und leisten nichts zur Vertiefung der Behauptung.
Aber dem einengenden Korsett der Programm-Erläuterungen muss man ja nicht folgen. Es reicht völlig, die wunderbare bunte Bilderwelt von „Corps Étrangers“ zu genießen, die bizarren Kostümierungen, die Verkleidungen in zuvor nie gesehene Fabelwesen und natürlich die exzellenten Akrobatik-Einlagen außergewöhnlicher Artisten, die den Abend zu einem unterhaltsamen Ereignis machen. Der routinierte Umgang von Mathieu Antajan mit dem Vertikalseil und seine verwegene Luftartistik; die witzige Partnerakrobatik von Tim Behren und Florian Patschovsky, die mit einem gekonnt verklammerten Vierfüßlergang fantasievolle Tierwesen vor unser geistiges Auge holen; die menschlichen Pyramiden, die dreifach gestapelt in die Höhe ragen – das alles sind Highlights artistischer Unterhaltung. Wenn Mathieu Antajan wie von einer unsichtbaren Hand in die Höhe gezogen wird, dann wieder kopfüber nach unten stürzt, ist noch am ehesten etwas vom Geheimnis unserer Entwicklung zu spüren. Kein Wunder, dass bei so viel Akrobatik, Saltos, Radschlagen und Kletterlust der Tanz auf der Strecke bleibt. Bleiben grad mal einige anspruchslose rhythmische Gruppenformationen mit vorreligiöser Anmutung. Zu diesem Inszenierungsstil passen dann auch die überzogenen Lichteffekte und Gegenlichtszenen, der achtzig Minuten enervierende elektronische Live-Sound voll obskurer Tierlaute und die bei Thiersch üblichen Blackouts von Ton, Licht und Bewegung.
Mit seinem überhöhten Anspruch bleibt die Inszenierung ein zwiespältiges Werk und vor allem das, was im Programm steht: ein Spiel mit Bildern, Verkleidungen, physikalischen Kräften – nicht mehr.
Vorstellungen bis Februar 2014 in Düsseldorf, Beirut/Libanon, Leipzig und Münster
www.mouvoir.de
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