Der 1957 im österreichischen Graz geborene Nikolaus Leytner studierte sein Metier in Wien u.a. bei Axel Corti. Seit seinem Abschluss 1984 arbeitet er freiberuflich als Regisseur und Drehbuchautor für Film und Fernsehen. Mit den Filmen „Schwarzfahrer“ und „Drei Herren“ feierte er in den 1990er Jahren insbesondere in Österreich Erfolge. Auch seine Fernsehfilme „Der Besuch der alten Dame“ mit Christiane Hörbiger oder „Ein halbes Leben“ mit Josef Hader wurden viel beachtet. Am 1. November startet nun „Der Trafikant“ in den Kinos, Leytners Adaption des gleichnamigen Robert-Seethaler-Romans.
engels: Herr Leytner, „Der Trafikant“ basiert auf dem bekannten Roman von Robert Seethaler. Was hat Sie am meisten daran fasziniert, dass Sie den Entschluss fassten, das Buch zu verfilmen?
Nikolaus Leytner: Ich habe sofort nach der Lektüre gedacht, dass dies ein ganz besonderer Filmstoff ist. In erster Linie deshalb, weil wir die Zeit, in der er spielt, aus vielen anderen Filmen und Romanen sehr gut kennen, aber hier wird sie, wie ich finde, zum ersten Mal aus der Perspektive eines jungen, ein bisschen unbedarften und naiven Burschen vom Land geschildert. Er ist zwar sehr wach und neugierig, wird aber in die große Stadt geworfen, wo die Dinge dann aus seiner Perspektive geschildert werden, so wie er sie wahrnimmt. Zunächst interessiert ihn beispielsweise das Dekolletee einer Kundin in der Tabaktrafik mehr als irgendwelche politischen Verwerfungen oder aggressive Stimmungen, die es auf der Straße gibt. Dieser neue Blick auf diese Zeit hat mir gut gefallen. Ich wollte immer ganz nah am Roman bleiben, weil dort auch die Geschichte dramaturgisch sehr gut erzählt ist. Das eine oder andere habe ich aber auch hinzuerfunden, wie beispielsweise die Tagträume, die es im Buch nicht gibt. Aber alles im Sinne, die Geschichte komplett aus der Perspektive des jungen Protagonisten zu erzählen. Am Anfang kommen die mehr als bekannten nationalsozialistischen Embleme kaum vor. Erst, als diese unmittelbar in sein Leben eintreten und Personen aus seinem nächsten Umfeld betreffen, wird er dieser gewahr. Er wird dann auch sehr schnell unter dem Druck dieser Ereignisse zum Mann, was ich auch sehr spannend gefunden habe. Die Königsidee des Romans war für mich die Freundschaft, die hier zwischen dem Burschen vom Lande und dem weltberühmten Erfinder der Psychoanalyse, Sigmund Freud, postuliert wurde. Dieses Element war für mich auch etwas ganz Besonderes, weil es über die Zeit etwas erzählt, was so noch nie erzählt worden ist.
Wie eng war denn die Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller Robert Seethaler während der Dreharbeiten?
Wir haben uns ganz zu Beginn des Projekts vor einigen Jahren in Berlin getroffen. Damals hat er mir den Roman in die Hände gelegt und sozusagen erlaubt, daraus zu machen, was ich möchte und was ich kann. Er wollte sich eigentlich überhaupt nicht einmischen und hat das aktiv auch gar nicht getan. Aber mir war es wichtig, dass er mir sein Feedback zu neuen Drehbuchfassungen gibt. Es war eine sehr entspannte und von gegenseitigem Respekt getragene Zusammenarbeit. Er spielt im Film ja sogar mit, hat einen kurzen Cameo-Auftritt, und mag den Film auch sehr.
Die Tagträume, die Sie bereits erwähnt haben, stechen auch visuell aus dem Film hervor. Wie haben Sie diese umgesetzt?
Es war mir wichtig zu zeigen, was ein Junge, der auf dem Lande direkt am See aufwächst, fernab von jeglicher intensiveren Bildung, für ein Lebensumfeld hat. Die Unterwasserwelt ist für ihn so etwas wie seine Heimat. Ich habe auch versucht, nachdem er im Film sehr schnell in Wien landet, seine ursprüngliche Heimat als Kontrast ein Stückweit präsent zu halten. Deswegen habe ich auch bebildert, wie seine Mutter die Ansichtspostkarten schreibt, damit man auch als Zuschauer immer wieder in die Welt zurückkehrt, die der Protagonist verlassen musste. Auch in den Träumen habe ich diese alte Heimat immer wieder vorkommen lassen, weil dadurch für den Protagonisten neue Zusammenhänge zwischen seinem alten und seinem neuen Leben entstehen. Das war mein Versuch, ein wenig in die Gedankenwelt und den Kopf von Franz Huchel einzudringen, weil das auch eine zusätzliche Herausforderung bei Literaturverfilmungen ist, die über das Nacherzählen der eigentlichen Handlung hinausgeht. In diesen Tagträumen sollten die Stimmung und der Tonfall des Romans noch mitschwingen.
In Zeiten des globalisierten Internethandels mutet ein Trafikant, der jeden Kunden individuell betreut und um seine Gepflogenheiten weiß, noch mehr aus der Zeit gefallen an. Wollten Sie damit auch ein Statement setzen?
Wir haben natürlich sehr viel für den Film recherchiert. Erstaunlicherweise gab es zu dieser Zeit auch im kleinen Österreich sehr, sehr viele Zeitungen, ungefähr zehnmal so viele, wie es heute gibt. Dementsprechend auch sehr viel mehr Meinungen. So etwas wie die Internetblasen, in der jeder nur noch in seiner eigenen Sicht der Dinge bestärkt wird, hat es damals natürlich noch nicht gegeben. Ein Mensch wie der Otto Trsnjek, der in seinem Beruf mehr gesehen hat als die Möglichkeit, als Kriegsversehrter über die Runden zu kommen, sondern der als Trafikant eine Aufgabe für sich gefunden hatte, das dürfte es heute in dieser Form tatsächlich nicht mehr geben. Die Meinungsvielfalt, die viele verschiedene Denkansätze zulässt, ist vermutlich auch etwas, was in unserer digitalisierten Zeit immer mehr abnimmt. Heutzutage errechnet ja ein Algorithmus, was wir lesen wollen!
Sigmund Freud spielt im Film ja eine wichtige Rolle. Wie nah wollten Sie dabei dem echten Freud kommen?
Es war von Anfang an klar, dass der Film kein Biopic wird, bei dem es wirklich darum geht, die Figur ganz konkret und historisch fundiert wiederzugeben. Mir und Bruno Ganz war aber im Vorfeld wichtig, dass wir dem Menschen in diesem hohen Alter einigermaßen gerecht werden. Bei Robert Seethaler im Roman ist die Figur doch schon sehr gebrechlich und am Ende des Lebens angelangt, aber in Wirklichkeit war Freud noch immer mitten im Beruf. Er hat zwar unter seiner Krebserkrankung gelitten, war aber ungebrochen und ruhte sich auch mit über 80 Jahren noch nicht auf den Lorbeeren seines arbeitsreichen Lebens aus. Natürlich muss es bei einer solch ikonischen Figur wie Sigmund Freud auch mit der Ähnlichkeit halbwegs funktionieren. Obwohl die Freundschaft nicht historisch belegt ist, ist sie für mich durchaus vorstellbar, weil ich mir denken kann, dass für einen Menschen wie Freud die Begegnung mit einem jungen Mann, der ihm ganz unverstellt entgegentritt, sicherlich etwas Besonderes gewesen wäre, was er genossen hätte. Deswegen wäre eine Freundschaft, wie wir sie schildern, durchaus möglich gewesen.
Ein Großteil des Films ruht auf den Schultern des talentierten Simon Morzé. War es ein langer Prozess, ihn für die Rolle zu finden?
Am Anfang haben wir versucht, für den zu Beginn des Films 17jährigen Franz ein neues Gesicht zu finden. Wir haben großflächig, auch an Schulen, Castings veranstaltet. Am Anfang waren es mehr als 300 Teilnehmer, die wir dann immer weiter reduziert haben. In der letzten Runde wollten wir dann auch professionelle Schauspieler mit dazu nehmen, die bereits Erfahrungen gesammelt haben und von Agenturen vertreten wurden. Da ist am Ende dann auch Simon Morzé dazugekommen, von dem ich dann relativ schnell wusste, dass er der Richtige dafür ist. Das Lustige an der Geschichte ist, dass er als neunjähriger Junge bei mir in einem Fernsehfilm mit Jan Josef Liefers und Julia Stemberger seine erste Rolle gespielt hat („Die Entscheidung“; die Red.). Seine Eltern sind auch Schauspieler, d.h. es war ihm nicht gänzlich fremd, aber ich habe ihn seinerzeit sozusagen zum Film gebracht. Der Simon ist wirklich ein ganz besonderer junger Schauspieler, dem es gelungen ist, der belastenden Aufgabe gerecht zu werden, einen Film komplett zu tragen und jeden Tag bei den Dreharbeiten dabei zu sein. Ein großes Glück war auch, dass er sich mit Bruno Ganz von Anfang an sehr gut verstanden hat. Es hat einfach gut gepasst, was man glaube ich auch im Film spüren kann. Das ist ein großer Glücksfall, weil man das als Regisseur weder erzwingen noch herstellen kann, man kann nur hoffen, dass es funktioniert, was hier Gottseidank der Fall war.
Sie haben in den letzten Jahren überwiegend fürs Fernsehen gearbeitet, aber ich vermute, dass beim „Trafikant“ von Anfang an klar war, dass dieser Stoff ins Kino kommen muss...
Ja, „Der Trafikant“ war von Anfang an als Kinofilm gedacht, weil es nicht so oft vorkommt, dass man solch einen Stoff in die Hände bekommt. Es ist zwar ein österreichischer Stoff, aber einer, dessen Buch auch in Deutschland sehr populär ist, mittlerweile gehört er bei euch ja sogar zur Schulpflichtlektüre. Da war von Anfang an klar, dass es ein Kinofilm werden soll, weil mit Freud auch eine Figur dabei ist, die man überall kennt. Dass ich viel Fernseharbeiten gemacht habe liegt u.a. daran, dass diese von der Finanzierbarkeit viel schneller und unkomplizierter zustande zu bekommen sind. Je aufwändiger und teurer ein Film wird, desto schwieriger wird die Finanzierung, und desto mehr Leute wollen dabei mitreden, wenn sie dafür Geld zur Verfügung stellen. Das macht den ganzen Ablauf komplizierter. Bei einem Fernsehfilm ist die Souveränität eines Autors und Regisseurs doch noch relativ groß, man ist dabei der Idee des Autorenfilms noch sehr viel näher, was mir persönlich auch sehr wichtig ist.
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