Reizvoll oder reizbar? Unzählige Sinnesbotschaften konkurrieren um unsere Aufmerksamkeit. Um das Jahr 1900 herum entwickelte der Expressionismus Stilmittel, die die Erfahrung ungeahnter Vielfalt künstlerisch fassbar machten, die Gleichzeitigkeit von Ungleichem. Klingt akademisch, zielte aber auf die alltägliche Wahrnehmung von Menschen, die sich inmitten einer beschleunigten Industrialisierung wiederfanden, die besonders den öffentlichen Raum grundstürzend umgestaltete.
Rückblickend mag jene Epoche geradezu meditativ wirken. Denn was sind schon Leuchtreklamen, was die beginnende Neugestaltung der Stadt durch Technik und Konsum gegen die blinkende, piepsende und vibrierende Allgegenwart des Smartphones – von der weiteren Vervielfachung und Durchdringung der Medien gar nicht erst zu reden? Der neueste Stand der Digitalisierung überwältigt erneut.
Die Dauerbotschaften bereichern nicht, sondern schlagen um in Verarmung, wird gewarnt: Rundum mit der Welt verdrahtet, verlieren Menschen den Kontakt zu ihr und den zu sich selbst. Da schwingt sicher so manches Mal Sentimentalität mit; aber selbst wenn: Wer möchte behaupten, dass ein Touchscreen genügt, um die Sinne zu befriedigen? Dass an vielen Tagen kaum Minuten bleiben, um innezuhalten und das eigene Blut im Kopf rauschen zu hören? Misstrauen gegen das digitale Leben kann sich auch einstellen angesichts der pädagogischen Strategien der Silicon-Valley-Elite. Die lässt ihren Kindern wohlwissend eine analoge Erziehung angedeihen und bewahrt sie möglichst lange vor diversen digitalen Hilfsmitteln.
Das Monatsthema SINNESFREUDEN nähert sich diesen Herausforderungen von mehreren Seiten. Wir diskutieren erste Anstrengungen, Städte von Werbung zu befreien, spüren einem souveränen Umgang mit digitalen Kommunikationshilfen nach und erinnern an die heilsame Kraft von Umarmungen und Streicheleinheiten.
In unseren Interviews räumt die Neurowissenschaftlerin Kathrin Ohla mit Irrtümern über den Geschmackssinn auf, die Meditationslehrerin Annette Bernjus erklärt, wie ein Besuch im Wald die Nerven beruhigt und der Mehrfach-Synästhetiker Matthias Waldeck erzählt, wie es ist, Farben zu hören, gehörte Töne auf einem inneren Notenblatt zu notieren und gesprochene Worte mit inneren Untertiteln zu versehen.
Vor Ort besuchen wir die Lärmschutzgemeinschaft Flughafen Köln/Bonn, die Performance-Gruppe dorisdean in Bochum, die Körperideale hinterfragt und in Wuppertal eine Praxis, die hochsensible Menschen in ihrer Auseinandersetzung mit sich und der Welt begleitet.
Ähnlich präsent wie um 1900 scheint heute übrigens auch die Furcht vor einer Apokalypse, erneut wegen hufescharrender Staatenlenker und zudem des Klimawandels. Eine Auseinandersetzung mit unseren Sinnen könnte auch geboten sein, um von diesen nervenzerrenden Botschaften nicht hilflos aufgerieben zu werden.
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