In einer Harmonie oder zumindest im Dialog bewegen sich Tanz und Musik für gewöhnlich miteinander. Aber was geschieht, wenn einer ausschert und sich nicht an die Regeln hält? Tanz und Musik, das ist eine Ehe, die die Moderne das Fürchten gelehrt hat, was sie verbindet, ist die Bewegung. Stephanie Thiersch lässt ihre Tänzer (Viviana Escalé, Mu-Yi Kuo und Valentí Rocamora i Torà) diesen Pakt aufkündigen. Die Tänzer attackieren in der neuen Choreografie „for four“ die Musiker des Asasello-Quartetts, sie rücken ihnen auf den Leib, tragen sie mit ihren Instrumenten durch den Raum, rempeln sie an, wiegen sie im Arm oder legen sich einfach wie lästige Verliebte auf die Musiker.
Es macht Lust, ihnen zuzuschauen, während das Quartett etwa Mozart spielt. Nie artet die Aktion zu einer Komik-Einlage aus. Die Idee ist originell, sie bricht ein Tabu und demonstriert zugleich ein Verständnis für die tiefe Gemeinsamkeit beider künstlerischer Medien. Das Konzept zählt hier mehr als die Qualität des tänzerischen Materials, das nicht darauf angelegt ist, zu beeindrucken.
Im zweiten Teil der Produktion – die Stephanie Thiersch in Düsseldorf und Köln gezeigt hat und die sie am 25. April im Rahmen von Tanz NRW in Münster im Theater im Pumpenhaus präsentieren wird – bietet ihr Ensemble Mouvoir die nun komplett entwickelte Choreografie „Nature Morte“. Das Asasello-Quartett spielt unterstützt vom Cellisten Teemu Myöhänen Franz Schuberts Streichquintett C-Dur D 956 pointiert und schnörkellos zugleich. Gegen die Präsenz der Musiker hat das tanzende Paar (Viviana Escalé und Valentí Rocamora i Torà) keinen leichten Stand. Die Außenreize sind stark, denn neben der imponierenden musikalischen Begleitung müssen sie auch noch vor einer überdimensionalen Bildwand agieren, die wechselnde Landschaften zeigt, die mit einem Gefühl für subtile Dramatik fotografiert wurden.
Wenn sich der Titel auch auf das Genre des Stillebens bezieht, so geht es hier nicht kontemplativ zu. Der französische Titel ist hingegen gut gewählt, in ihm ist der Tod enthalten, dem hier ein verzweifelter Kampf vorausgeht. Die Menschen bleiben isoliert von der Natur. Der alte deutsche Traum, mit der Natur zu verschmelzen, scheitert demonstrativ. Ein Stöhnen und Schreien entfährt den Kehlen, aber letztlich bleiben sie stumm vor den Bildern, die Körper zerfallen auf der torfigen Erde, das Paar kann nur zerbrechen. Diese Choreografie ist stärker als die erste des Programms durch ihr Thema motiviert, deshalb wirkt sie länger nach. Stephanie Thiersch wagt sich mit gewinnendem Selbstbewusstsein an eines der komplexesten Themen der abendländischen Kunst und gibt ein Statement zur Vertreibung des Menschen aus der Welt der Natur und der Bilder ab, das eine eigene Überzeugungskraft besitzt. Sie verzettelt sich nicht in kulturellen Bezügen, sondern konzentriert die Choreografie auf das Drama des Paars. Ein scheinbar romantisches Thema, das aber so packend wirkt, weil es die Emotion mitleidlos verdampfen lässt. So kommt die Liebe auf wohltuende Weise wieder in der Gegenwart an.
„for four“ / „Nature Morte“ | auf Tour: 25.4. in Münster, Theater im Pumpenhaus | mouvoir.de
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