Aktualisieren ist wichtig: Darin bestand Einigkeit im lauschigen Hof der Wuppertaler börse. Zur Vorbereitung aufs Engelsjahr hatte das soziokulturelle Zentrum in den Außenbereich geladen, und neben Getränken und Grillwurst gab es eine entspannte historische Lehrstunde: Andreas Bialas führte in freier Rede ein in den geschichtlichen Kontext, vor dem Engels und Marx ihre Schriften verfassten.
Bialas ist nicht nur SPD-Abgeordneter im Düsseldorfer Landtag, sondern spricht auch gern Literarisches. Auch heute durchzogen Gedichte über das Elend während der Industrialisierung seinen Vortrag, der ansonsten launig wie auch pointiert Grundlagen vermittelte. Die Analysen erschienen als fällige Reaktion auf Industrialisierung und Maschinisierung, und der Referent fand griffige Formeln zum damals jungen Kapitalismus: Neben „Mehrwert“ benannte er „Wetten auf die Zukunft“ als typische Elemente. Das kam verpackt in eine launige Darstellung damaliger Arbeitsverhältnisse: „Von Erträgen ihrer Arbeit sahen die Abhängigen nie etwas.“ Überdeutlich geriet der Tonfall, wenn es um Erwartungen an Leibeigene ging: „Ich find' das geil, wenn du für mich kämpfst.“ Jedermanns Sache mochte dieser Stil nicht sein, doch auch Bezüge zur Gegenwart fehlten schon vor der Fragerunde nicht.
Bialas ist bekannt als kulturaffin und präsent als Rezitator, gern mit Schal, wenn es nicht gerade so warm ist wie an diesem Juliabend. Keineswegs fein-vergeistigt geriet er vor zwei Wochen überregional in Schlagzeilen, als er von einer Demo gegen rechts ein polizeikritisches Video online stellte: Teilnehmer Thomas Lenz, Leiter von Wuppertals Arbeitsagentur, wurde von mehreren Polizisten robust fixiert und festgenommen. Aus dem Kontext gerissen? Gar unkollegial, denn Bialas war früher selbst Polizist? Lebensfern oder unentschlossen jedenfalls hatte er sich dort nicht präsentiert, so sehr man das bei lyrischen Gemütern sonst vermuten mag.
Nicht zum ersten Mal gab Bialas heute eine populäre Geschichtsstunde. Gern mit heiterer Didaktik: „Wisst ihr, warum es bei Shakespeare so viele Tote gab?“ Das alles hatte etwas von Bastian Sick oder Eckard von Hirschhausen, allerdings um ein gutes Stück kerniger. Anschaulich bis simpel: Etwas zwiespältig mochte dieser Ansatz wirken, als Bialas im Frühjahr ähnlich vor Mitgliedern des Netzwerks Kultur auftrat. Vor einer breiten Öffentlichkeit aber bietet er nette Gelegenheit, sich auf unterhaltsame Art etwas Hintergründe zur Gegenwart zu verschaffen.
Sehr breit war diese Öffentlichkeit in der börse nicht, sprich sparsam erschienen – und wer da war, zeigte sich wiederholt gut informiert. Seit Engels' Zeiten hätte das Verständnis von Grundbedürfnissen sich sicher verändert, warf einer ein und regte zur Klärung an: „Was sind heute die Gemeingüter, die wir schützen wollen für die Gesellschaft?“ Und Börsen-Chef Lukas Hegemann fragte unter anderem nach Engels' revolutionären Folgerungen, die ja auch bei Zustimmung zur Analyse nicht jeder mittrug: „Wo ist für dich die Bruchstelle?“ Bialas konterte nicht textnah, dafür pragmatisch – mit Verweis auf die Distanz der Sozialdemokraten zum Umsturz: „Engels hat sich am Ende mit der SPD versöhnt.“ Ein dritter Zuhörer schließlich referierte gar die Entwicklung hin zur Sozialen Marktwirtschaft, um dann hinter den bisherigen Plan der Stadt zum Engelsjahr ein höfliches Fragezeichen zu setzen: „Bislang wirkt es ein wenig nach der Frage: Was kann Engels fürs Wuppertaler Stadtmarketing tun?“ Das saß.
Bialas jedenfalls hatte Aktualisierungen selbst im Blick und formulierte entsprechend Erwartungen an die Politik. Obwohl er selbst ihr angehört – oder doch „weil“, mochte man zweifeln? Der SPD-Mann gestattete sich Kritik am Hartz IV-System, das bekanntlich von seiner Partei eingeführt wurde und bis heute getragen wird. Olaf Scholz hat es ja vor Kurzem in Frage gestellt, aber wohl nicht viele überzeugt. Bialas versuchte es heute wenigstens auch ein bisschen: „Das Versprechen bis dahin, wer arbeite, bekomme soziale Sicherheit, hält Hartz IV nicht immer. Das kann man nicht erklären, wenn gleichzeitig Gewinne exorbitant steigen. Das können wir vor allem dann nicht erklären, wenn wir Erben einer sozialen Bewegung sind." Zur Prognose steigender Arbeitslosigkeit durch die Digitalisierung verwies er auf neue Bedarfsfelder in Pflege oder Lehre und deren Finanzierung: „Aufgabe wird sein, Gewinne abzuschöpfen, um diese Berufsfelder zu stärken.“ Und aus der Ruhe bringen ließ er sich auch nicht, als von Zuschauerseite dezent gegen seine Partei gestichelt wurde: „Ich will jetzt gar nicht eingehen auf den dritten Irrweg – der Sozialdemokratie.“ Bialas grinsend: „Danke.“
Der Sommerabend in der börse bot unterm Strich einen lockeren Crashkurs und gab Raum zum Äußern von Defiziten. Wie viel die Akteure des Engelsjahrs davon noch ausgleichen werden, ist unklar; wieviel die Politik, auch die SPD im Großen ausräumt, noch weniger. Um es proletarisch zu sagen: Da geht noch was.
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