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Mieke Roscher
Foto: Sonja Rode

„Sie verstehen uns“

28. Juni 2024

Teil 1: Interview – Tierhistorikerin Mieke Roscher über die Beziehung zwischen Menschen und Tieren

engels: Frau Roscher, hat die Geschichte zwischen Menschen und Tieren einen Anfang?

Nein, sie war eigentlich schon immer da. Seit es den Menschen als homo sapiens gibt, hat er sich mit Tieren umgeben. Und auch heute gibt es keine einzige menschliche Gesellschaft, die ohne Tiere lebt. Was sich jedoch über die Zeit verändert hat, ist, mit welchen Tieren wir leben, ob und wie wir sie nutzen. Im Mittelalter lebten zum Beispiel noch ganz andere Tiere mit uns unter einem Dach – klassischerweise Kühe und Schweine. Während Tiere also eine Konstante darstellen, ist unser Verhältnis zu ihnen über die Zeit ein ganz anderes geworden.

„Die Funktion dieser Tiere ist, dass es sich bei ihnen um Familienmitglieder handelt“ 

Die meisten Menschen erleben Nähe zu Tieren durch Haustiere. Wodurch zeichnet sich diese Beziehung aus?

Erstmal ist es wichtig, diese Frage örtlich einzuordnen. Denn unser Verhältnis zu Tieren unterscheidet sich auch global stark. Unsere heutige Beziehung zu Haustieren ist ein Erbe der bürgerlichen Gesellschaft in Westeuropa und Nordamerika. Diese Gesellschaftsform zeichnet sich dadurch aus, dass sie Familien kleiner und enger machte und Rollen innerhalb der Familie klarer verteilte. Im Rahmen dieser Entwicklung sehen wir, dass Hunde und Katzen in den Wohnraum aufgenommen werden, obwohl sie dort eigentlich keine Funktion mehr besitzen. Die einzige Funktion dieser Tiere ist also, dass es sich bei ihnen mit um Familienmitglieder handelt. Dieses Paradigma hat sich durchgesetzt: Hunde und Katzen werden meistens nicht mehr zu Arbeitszwecken herangezogen, stattdessen bieten sie emotionale Unterstützung. Mit der Homogenisierung der Gesellschaftsschichten, die sich spätestens ab den 1950ern durchsetzt, durchzieht diese Gewohnheit der bürgerlichen Mitte alle Klassen. Das bedeutet also: Gesamtgesellschaftlich werden bestimmte Tiere nicht mehr gegessen und bekommen Namen. Heute sehen wir außerdem, dass unsere Gesellschaft immer toleranter gegenüber verschiedenen Lebensentwürfen wird. Auch das erlaubt, richtige Freundschaften mit Tieren einzugehen, die als wichtige Beziehungen von der Gesellschaft akzeptiert werden.

Sind Haustiere dann ein neuzeitliches Phänomen?

Wenn wir mit Haustieren Tiere meinen, die in nächster Nähe zu den Menschen leben, dann gibt es das natürlich schon viel länger. Das sehen wir an den 30 bis 40 domestizierten Tierarten, die es gibt. Wenn wir hingegen von sogenannten „Heimtieren“ sprechen, die tatsächlich ausschließlich in der Wohnung leben, gibt es zwar auch hierfür frühe Beispiele in der Geschichte. Diese Frühformen der Heimtierhaltung waren jedoch einem kleinen Kreis von Menschen – dem höheren Adel – vorenthalten. Im Hoch- und Spätmittelalter haben sich Adelige zum Beispiel gezähmte Eichhörnchen als Haustiere gehalten. Die Moderne im globalen Norden zeichnet sich nun dadurch aus, dass sich dieses Paradigma breitflächig in der Gesellschaft durchsetzt.

Was ist mit Tieren, die nicht unter diese Gruppe der Heimtiere fallen?

Erstmal ist es wichtig, dass wir anerkennen, dass es sich bei diesen Tierarten oder -gruppen um kulturelle Tiertypen handelt. Es handelt sich also nicht um eine biologische Aufteilung. Neben den Heimtieren kennen wir als kulturellen Tiertyp zum Beispiel das sogenannte Wildtier. Wenn wir einige der Tiere dieser Gruppe näher betrachten, stellen wir jedoch fest, dass es sich auch bei ihnen eigentlich um Kulturfolger handelt, die sich menschliche Räume bereits zu eigen gemacht haben – so zum Beispiel die Füchse in Berlin. „Wild“ beschreibt hierbei also nur, dass sie nicht unter unser primäres Nutzungsparadigma fallen. Aber auch die Grenze zu den sogenannten Nutztieren verschwimmt weiter. Denn auch Wildtierherden werden immer häufiger beispielsweise auf Farmen gehalten. 

„Es ist vor allem die Kultur, die diese Tiere zu Tiergruppen ordnet, nicht ihre biologische Realität“

Was hat das mit der Domestikation dieser Tiere zu tun?

Domestizierte Tiere sind diejenigen, die ohne uns Menschen nicht mehr alleine überleben können. Hunde zum Beispiel brauchen soziale Nähe. Würde wir einen Hund aussetzen, könnte er sich alleine zwar vielleicht durchsetzen, er wäre aber wahrscheinlich nicht über mehrere Generationen fortpflanzungsfähig. Dasselbe gilt auch für Rinder. Solche Tiere sind also vollkommen von uns abhängig – wenn wir ehrlich sind, wir aber auch von ihnen. Tiere, die wir als Wildtiere bezeichnen, sind in der Regel eher nicht domestiziert, sondern höchstens gezähmt. Sie können also über eine Generation hinaus ohne uns weiterbestehen. Darüber hinaus gibt es noch etliche Mischformen. Zum Beispiel Katzen: Katzen kommen im Allgemeinen sehr gut ohne uns zu Recht. Sie sind weder auf unsere Gesellschaft noch auf Nahrungszufuhr durch den Menschen angewiesen. Trotzdem leben sie häufig mit uns zusammen. Diese Beispiele sollen verdeutlichen: Solche Einteilungen sind immer schwierig. Und gerade wenn wir den Blick auf die globale Situation richten, wird es erst richtig kompliziert, da in anderen Kulturen häufig ganz andere Einordnungen gelten. Auch das zeigt: Es ist vor allem die Kultur, die diese Tiere zu bestimmten Tiergruppen zuordnet, nicht ihre biologische Realität. 

„Hunde sind extrem emotional intelligente Tiere“

Als klassisches Haustier gelten für uns vor allem Hunde und Katzen. Woher kommt diese Bedeutung?

Bei Hunden ist das recht einfach zu erklären, weil wir bereits so lange mit ihnen zusammenleben. Der Hund ist das erste Tier, das sich an die menschliche Gesellschaft angepasst hat. Und diese Anpassung kann sich sehen lassen: Hunde sind extrem emotional intelligente Tiere. Sie verstehen uns. Man kann daher auch von einer Koevolution sprechen: Wir sind gemeinsam mit dem Hund gewachsen – und das über 20.000 Jahre. Das macht natürlich etwas mit der Beziehung zu diesen Tieren. Hunde sind Rudeltiere und können sich in die menschliche Gesellschaft eins zu eins einfügen. Man sieht das zum Beispiel, wenn sich Hundebesitzer treffen: Es wird miteinander geredet, es wird mit den Hunden geredet – das ist wirklich eine Gemeinschaftskommunikation.

Und wie ist es mit Katzen?

Bei Katzen ist es diffiziler. Wir wissen natürlich, dass Katzen bereits im alten Ägypten eine signifikante religiöse Bedeutung hatten; sie wurden als Götter verehrt. Das zeigt übrigens auch, wie wichtig die Rolle der Religion ist, wenn wir über Mensch-Tier-Beziehungen sprechen. Sie erklärt beispielsweise, warum Hunde im arabischen Gebieten nicht so weit verbreitet sind wie Katzen, da die Frage nach sauberen und unsauberen Tieren dort anders beantwortet wird. Neben dieser religiösen Dimension war es jedoch auch immer so, dass Katzen eine Funktion für uns hatten: Sie haben uns Mäuse vom Hals gehalten, ohne, dass wir sie groß verhätscheln mussten. Und das Paradigma „Das sind Tiere, die uns helfen“ scheint sich auch hier gehalten zu haben. Deswegen wurden sie auch manchmal „die hygienischen Helfer“ genannt.

Gleichzeitig gibt es Menschen, die auch andere Tiere als Haustiere halten, Igel beispielsweise. Gerade auf Social Media sind solche Videos sehr populär. Warum?

Wir leben in einer Gesellschaft, die sehr auf Individualität setzt. Viele Menschen möchten aus der Masse herausstechen. Gleichzeitig gibt es Gruppenphänomene, die dazu führen, dass sich Menschen eher anpassen. Diese beiden Pole strukturieren unsere westliche Gesellschaft. Um sich von der Masse abzusetzen, kann man sich nun beispielsweise Taranteln halten. Auch das gilt als ein mögliches Herausstellungsmerkmal in einer Gesellschaft, die sich größtenteils Hunde, Katzen und vielleicht noch Kaninchen hält, aber auf viele andere Tierarten eher mit Ablehnung reagiert.

Gab es solche Trends auch schon immer?

Ja, auch hier gibt es historisch diverse Vorläufer. Wenn wir uns zum Beispiel adlige Höfe anschauen, hatten viele Herrscher sogenannte Menagerien – eine Vorform des modernen Zoos. In diesem Menagieren wurden diverse exotische Tiere gehalten, die die Exklusivität des Herrschers oder der Herrscherin herausstellen sollten. In gewisser Weise funktioniert das heute also noch ganz ähnlich. Gleichzeitig leben wir in einer pluralen Gesellschaft, die auch viel mehr Möglichkeit bietet, sich in dieser Form auszuleben. Und das kann eben sowohl im Dackelverein sein als auch in der Vereinigung der Spinnenzüchter.

Verändert es unsere Beziehung zu Haustieren, wenn sie eher als Statussymbol dienen?

Ich würde nicht sagen, dass wir uns diesbezüglich in einer revolutionären Wende befinden. Stattdessen können wir hier vielleicht von einer Trenderweiterung sprechen. Wenn wir beispielsweise auf die Zucht blicken, so ging es schon seit dem Beginn im 19. Jahrhundert um eine Auswahl von bestimmten körperlichen Merkmalen, die sich leider häufig negativ auf die Tiere auswirkt. Heute geht es dabei vor allem um das Aussehen, da die meisten Tiere eigentlich nur noch die Funktion haben, süß auszusehen und unseren emotionalen Bedürfnissen gerecht zu werden. Die Grundbewegung ist aber schon im Beginn der organisierten Zucht so angelegt.

Sie forschen auch zu Tieren in der NS-Zeit und im segregierten Amerika. Ihre Forschung zeigt, dass die Beziehung zu Tieren mit gesellschaftlichen Entwicklungen zusammenhängt. Wie ist das heute?

Wir leben in Zeiten des Klimawandels, der eben auch zu Teilen Produkt unserer Beziehung zu Tieren ist. Wir müssen unsere Beziehung also überdenken – gerade was die Nutztierhaltung angeht. Gleichzeitig gibt es mehr Menschen, die auf tierische Produkte verzichten. Auch das zeigt, dass sich unsere Beziehung zu den Tieren in dieser Hinsicht noch verändert. Ich glaube ein weiteres gutes Beispiel dafür, was unsere Beziehung zu Tieren uns über unsere Gesellschaft lehren kann, sind Zoos. Gerade im globalen Norden sehen wir, dass Zoos in den letzten Jahren ihr Programm umgestellt haben: Statt um das Schaustellen soll es fortan um die Erhaltung und Zucht von Tieren gehen, die vom Aussterben bedroht sind. Das neue Mantra und Aushängeschild der Zoos ist also: „Wir sind Artenschützer.“ Man muss aber auch sehen, dass Zoos als solche Produkte des Kolonialismus sind. In den ersten Zoos in London, Amsterdam und Berlin wurden Tiere aus ihrem natürlichen Lebensraum genommen und nach Europa transportiert, um zu zeigen: „Wir können das einfach machen.“ Das hat sowohl etwas über die Beziehung zu den Tieren als auch zu den Menschen in den Kolonien ausgesagt. Das neue Selbstverständnis von Zoos im globalen Norden ist jedoch ebenfalls von einer neokolonialen Sichtweise auf den globalen Süden geprägt. Diese Zoos sagen durch ihr neues Programm quasi: „So geht Artenschutz richtig.“ Damit wird aber eigentlich unterstellt, dass die Menschen in den ehemaligen Kolonien mit ihrer Fauna nicht selbst umgehen können.

„Mir geht es darum, die Tiere als Akteure unserer Gesellschaft zu rehabilitieren“

Wir haben nun auch viel über Menschen gesprochen. Sehen Sie Ihre Aufgabe als Tierhistorikerin darin, die Geschichte der Tiere zu erzählen oder geht es darum, die Geschichte der Menschen durch die Tiere besser zu verstehen?

Das ist eine Frage, auf die Sie in einem Raum voller Tierhistoriker:innen wahrscheinlich zwanzig verschiedene Antworten bekommen würden. Ich habe beispielsweise einen französischen Kollegen, Eric Baratay, der sagt, wir müssten die ganze Geschichte nochmal neu schreiben – für die Tiere. Ich würde das zum Beispiel überhaupt nicht unterschreiben. Mir geht es eher darum, die Tiere als wirkmächtige Akteure unserer Gesellschaft zu rehabilitieren. Dass es dabei immer auch um Menschen gehen muss, liegt aber bereits in der Methode der Geschichtswissenschaft: Als Historikerin setze ich mich Quellen auseinander, die von Menschen verfasst wurden. Archäologinnen und Archäologen können sicherlich deswegen mehr über Tiere sagen, als ich das kann. Ich weiß dafür viel mehr über die Beziehung zwischen Tieren und Menschen, weil ich mir ja genau das angucke. Was ich also eigentlich mache, ist eine Beziehungsgeschichte zu schreiben, bei der mir immer wieder auffällt, dass wir die Tiere in unserer Gesellschaftsgeschichte mehr inkludieren müssen. Ohne sie wird ein essentieller Teil der Beziehungen von Menschen einfach ausgeblendet. Dass ich dabei auch viel über die Tiere selbst lerne, gehört aber natürlich dazu. 

Gibt es etwas, das Sie sich für diese Beziehung noch wünschen würden? Ein Happy End in unserer Geschichte mit den Tieren?

Ich habe meine Dissertation über die lange Geschichte der englischen Tierschutzbewegung geschrieben. In meinem Fazit musste ich zu dem Ergebnis kommen: Der Tierschutz konnte sich nicht durchsetzen – oder zumindest nicht komplett, weil nur einige Tierarten wirklich geschützt werden. Es ist eben scheinbar gesellschaftlicher Grundkonsenz, dass die Nutzung von Tieren völlig in Ordnung ist. Womit ich damals noch nicht gerechnet habe, ist die vegane Revolution, die wir in den letzten fünf Jahren in Europa erleben. Inzwischen kann man fast in jedem Restaurant vegan essen. Vor zwanzig Jahren wäre das noch als extrem abgetan worden. Für mich zeigt das: Die menschliche Gesellschaft kann sich eben doch noch ändern. Die Geschichte hält immer Überraschungen für uns bereit, auch wenn wir sie wie ich nicht mehr erwarten.

Interview: Elisa Voß

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