Henry leidet seit Kurzem an ADHS – einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung, Erschöpfung sowie innerer Unruhe. Dabei hat er gar nichts gemacht – außer vollständig nutz- und sinnlos im Netz den lieben langen Tag abzuhängen – sich über alles permanent zu informieren. Ständig piepst es aus seiner Hosentasche, vibriert es in seiner Jacke. Nur eben keine Gefühle. Keine echten Freunde. Auch hat Henry keine Partner(-in). Wobei das ja auch nicht sein muss. Schließlich geht es ja manchmal besser alleine; es ist ja ein Klischee, dass man in einer Beziehung sein muss.
Zu Hause auf der gammeligen, versifften, aber immerhin gemütlichen Couch überkommt Henry mit den ungewaschenen Klamotten das Gefühl, kaum noch herauszukommen – er ist zum scheuen Vampir seiner eigenen digitalen Abhängigkeit und der einer gesamten Generation geworden. Jene ist in der Regel blass, selbst, wenn draußen die Sonne scheint. Gründe: Facebook. Mal kurz das Wetter checken. Nachrichten. Corona-Warn-App. Fitness-Apps, ohne ever Sport for real getrieben zu haben. Die Krise. Die gesamte Welt. Eine Generation, die sich wie irre halbwegs auf alles Mögliche theoretisch vorbereitet, um dann in der Praxis nie vor Ort zu sein.
Dating for real
Zäh erscheinende Pausen zwischen Wannabe-Terminen füllt Henry mit Whatsapp, Youtube, Spielen oder Instagram. Schließlich soll keine Sekunde vergehen, in der nicht irgendetwas zur Ablenkung läuft. Denken fällt auf diese Weise nur schwer. Aber hey, wer braucht schon zu sinnieren, wenn es Abkürzungen gibt?
Wenn Henry nach Verabredungen sucht, dann natürlich ebenfalls ausschließlich im Internet. Blöd ist, dass es zum echten Flirt auf diese Weise nur selten kommt. Denn häufig dated Henry eben ins diffuse Nichts, bekommt er doch laufend kurz vor Schluss Absagen, wird das Kennenlernen verschoben, wird er geghosted oder ist die zu Treffende am Ende doch wieder nur ein Fake. Das ist natürlich frustrierend; man es aber auch positiv sehen – immerhin bleibt Henry so vor schlechten Verabredungen verschont. Vielleicht wäre er, hätte er es gewagt hinauszugehen, von einem Auto überfahren worden, oder eines der potenziellen Dates hätte ihn umgebracht. Wer weiß das schon? Ist die echte Welt immer gut? Wohl kaum, immerhin regnet es da draußen Krankheiten, Kriege, Tod, Katastrophen, Unfälle oder Morde. Ist Romantik per se gut? Nein. Sie wird überwertet. So what? Manches Kennenlernen for real hätte man sich im Nachhinein sparen können. Überdies richtete die ältere Generation genug Schlechtes in der Realität an, floss bei ihr zur Genüge Schampus für Kappes.
Die Glücks-App
Es piepst. Oh! Jetzt muss Henry sich entscheiden. Hilfe! Etwas, das er überhaupt gar nicht kann. Zwischen der vermeintlichen Annika, die höchstwahrscheinlich gar nicht existiert und einer Fitness-Begeisterten namens Leyla, deren Bild ihn irgendwie einschüchtert. Sofern es echt ist. „Hast du vllt. auch 1 von dir?“ schreibt Leyla. Henry schickt ein Foto. Leyla äußert ihr Missfallen. „Sorry – wtf. Das ist mir zu unsportlich. Geh erst mal zum Coach, will you, dude? L.“ Henry: „Ok, sir Leyla, sir! LOL“. Als Leyla es wagt, ihn tatsächlich im Hier und Jetzt anzurufen, möchte Henry auf der Stelle sterben. Wie kann sie diese Konkretheit wagen? Doch das plötzliche Signal seiner Gesundheits-App setzte dem unheimlichen Geräusch eine Ende. Glück gehabt.
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