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Simon Schaupp
Foto: ©Derek Li Wan Po

„Neue Klassenkonflikte“

25. Mai 2022

Soziologe Simon Schaupp über Digitalisierung und Arbeiterinteressen – Teil 3: Interview

engels: Herr Schaupp, in der Pandemie wurde viel darüber spekuliert, ob sie die Digitalisierung des Arbeitsalltags verstärkt. Lässt sich das abschätzen?

Simon Schaupp: Ja, das lässt sich schon einigermaßen abschätzen. Es gibt zwei Entwicklungsstränge, die wichtig sind: Zum einen kann man sagen, dass die Digitalisierung wahrscheinlich die Hauptantwort der Geschäftswelt auf die Pandemie ist, vor allem in Bezug auf die Arbeitsorganisation. Die lässt sich in zwei Stränge einteilen: Einmal natürlich die Entwicklung zum Home Office, die nur durch digitale Technologie ermöglicht wird. Diese Entwicklung ist nachhaltig, die wird sich also auch nach der Pandemie fortsetzen. Während der Pandemie haben schon mehrere Unternehmen in Umfragen bekannt gegeben, dass sie diese aufgrund der guten Erfahrungen mit der Arbeitsproduktivität der Beschäftigten einerseits, und der Möglichkeit der Kostensenkung durch den Abbau von Büroarbeitsplätzen andererseits, beibehalten wollen, das scheint sich jetzt auch zu bewahrheiten. Dazu kommt tatsächlich auch eine neue Form der Arbeitskontrolle, die dadurch ermöglicht wird, dass man praktisch alles automatisch trackt, was bei digital vermittelter Arbeit passiert – das ist natürlich bei „analoger“ Arbeit nicht der Fall. Das finden viele Arbeitgeber attraktiv, im Sinne einer Leistungskontrolle. Zum anderen ist da die Frage nach der Automatisierung, da ist die Bewertung etwas schwieriger. In prognostischen Modellen wurde vermutet, dass die Pandemie zu einer großen Automatisierungswelle führt, allein weil man weniger Co-Präsenz in den Fabriken haben möchte – das hat sich aber nicht bewahrheitet. Und zwar, weil der Technikeinsatz nicht der technischen Machbarkeit und der Wünschbarkeit folgt, sondern der Profitabilität. Und es ist eben so, dass es sich vielfach immer noch mehr lohnt, die Sachen händisch herstellen zu lassen, als in teure Automatisierung zu investieren. Deswegen sind die digitale Kommunikation und Arbeitssteuerung die Hauptreaktion auf die Pandemie im Sinne der Digitalisierung.

Mittelfristig ist eine weitgehende Automatisierung unwahrscheinlich“

Der Trend zur Automatisierung wird überschätzt?

Das würde ich so sagen, und zwar nicht nur im Verlauf der Pandemie, sondern rückblickend auch in den letzten Jahrzehnten. Nicht weil sie technisch nicht möglich wäre, sondern weil sie bei einem so großen Niedriglohnsektor, wie wir ihn in Deutschland haben, für die Arbeitgeber ökonomisch einfach nicht attraktiv ist. Das lässt sich nicht nur über die Gegenwart sagen, da man einfach empirisch keine Automatisierungswelle feststellen kann, sondern anhand der Investitionszahlen auch für die nähere Zukunft: Denn an diesen kann man ablesen, dass die Investitionsquoten in diese Art von Kapital eher noch sinken. Daher ist es auch mittelfristig nicht sehr wahrscheinlich, dass es zu einer weitgehenden Automatisierung kommen wird.

In ihrem Buch sprechen sie von algorithmischer Arbeitssteuerung. Was ist das?

Das ist die Anleitung und Kontrolle von Arbeit durch Computer und nicht mehr durch Menschen. Zum Einsatz kommt sie vor allem im Niedriglohnsektor, bei Paketboten, Fahrradkurieren und ähnlichen Bereichen. In diesen Bereichen habe ich meine Untersuchungen gemacht, da ist es besonders prominent. Es gibt sie aber auch im Bürobereich, da nimmt es noch einmal andere Formen an – etwa durch Eingabemasken, die nur ganz bestimmte Aktionen zulassen und gleichzeitig noch nachverfolgen, was die Nutzer tun. Dadurch kann auch Büroarbeit durchorganisiert werden.

Diese Beschäftigten sind nicht komplett isoliert“

Anweisungen durch Computer und die Auflösung der Grenzen von Arbeits- und Berufsleben – wie wirkt sich der fehlende persönliche Kontakt aus?

Da muss man differenzieren, würde ich sagen. Bei Homeoffice-Tätigkeiten erscheint es mir zutreffend zu sein, dass die Wahrscheinlichkeit beispielsweise gewerkschaftlicher Organisierung eher gering ist, wenn die Leute nur noch zuhause sitzen und sich, wenn überhaupt, mit ihren Kolleg:innen nur in eng getakteten Zoom-Meetings unterhalten. Auch wenn dieser Bereich nicht im Fokus meiner Untersuchung stand, würde ich hier diese Diagnose teilen. Was ich aber in meiner Untersuchung zu den Essenskurieren feststellen konnte ist, dass dort eben keine Atomisierung stattfindet. Diese oft verbreitete Sichtweise, dass diese Beschäftigten keinen gemeinsamen Betriebsort mehr haben, nur noch durch ihre App dirigiert werden und deswegen komplett isoliert sind, ist auf jeden Fall falsch. Es ist so, dass sich eigentlich in jeder Stadt wo es diese Unternehmen gibt, informelle Treffpunkte herauskristallisieren, an denen sich die Beschäftigten austauschen können. Dadurch ist die Wahrscheinlichkeit für eine autonome Organisierung sogar höher, weil dort hemmungsloser kommuniziert werden kann als in einem Betrieb, in dem der Chef mit dabei ist. Mit einem Kollegen habe ich Befragungen unter Kurieren durchgeführt und diesen zufolge ist die Häufigkeit von Kommunikation mit Kolleg:innen unter diesen Beschäftigten sogar höher als in einigen analogen Betrieben.

Es kann entlastend sein, wenn man detaillierte Arbeitsanweisungen bekommt“

Ihrer Untersuchung zufolge empfinden einige Beschäftigte die Anweisung per App als angenehmer.

Der Vorteil der insbesondere von migrantischen Beschäftigten genannt wird ist, dass es eben keinen „Nasen-Faktor“ mehr gibt. Ob das wirklich so ist bleibt schon noch ein wenig fraglich, aber zumindest erscheint diese Form der Arbeitsorganisation objektiver zu sein, man ist eben nicht den spontanen Launen irgendeines Chefs ausgesetzt. Und man hat tatsächlich auch eine Arbeitserleichterung, denn es kann durchaus entlastend sein, wenn man detaillierte Arbeitsanweisungen bekommt. Das ist zwar ein Trend zur Dequalifizierung, der sich langfristig auch auf die Löhne auswirkt, aber von individuellen Beschäftigten wird es teilweise durchaus als angenehmer empfunden.

Wie organisieren Beschäftigte ihre Interessenvertretung?

Bei den Fahrrad-Kurieren verläuft die Organisation in eher informellen Bahnen als in der klassischen produzierenden Industrie, weil es dort eben wenig verankerte Gewerkschaftspräsenz gibt. Statt klassischer Streiks gibt es dort etwa sogenannte Logout-Aktionen. Diese laufen im Endeffekt auf einen Streik hinaus, bestehen aber einfach darin, dass die Leute sich aus ihrer App ausloggen und damit keine Dienste mehr bekommen. Dann gibt es kollektive „Slow-Downs“: Man verabredet im Kollektiv, nur eine bestimmte Höchstgeschwindigkeit zu fahren, um den Stress zu mindern. Die Organisierung über Messenger-Dienste wird meiner Meinung nach aber ein bisschen überschätzt, dennfür wirkliche Betriebsgruppen ist noch immer der persönliche Kontakt nötig. Man verabredet sich zwar ab und zu mal per Whatsapp, wie das eben jeder tut, aber man kann nicht sagen, dass eine Organisation darüber stattfindet. Das passiert an den informellen Treffpunkten, wo man sich dann austauscht, und auch Vertrauen zu seinen Kolleginnen undKollegen entwickeln kann.

Für wirkliche Betriebsgruppen ist noch immer der persönliche Kontakt nötig“

Es läuft ihrer Untersuchung nach auf eine „kybernetische Proletarisierung“ hinaus. Was ist das?

Das ist sowohl eine objektive als auch eine subjektive Entwicklung. Die objektive Entwicklung besteht in einer Abwertungstendenz, wie wir schon angedeutet hatten: Detaillierte Anweisungen für eine Tätigkeit führen zu einer Dequalifizierungderselben, was zur Folge hat, dass Facharbeiter durch Ungelernte oder Angelernte ersetzt werden. Das zweite Element ist eine Arbeitsverdichtung: Permanentes Feedback, etwa dass man zu langsam arbeitet, soll zur Selbstoptimierung genutzt werden. Die dritte Dimension ist eine datenbasierte Automatisierung, die darin besteht, dass man zum Beispiel Daten aus dem Arbeitsprozess verwendet, um darauf basierend fahrerlose Transportsysteme zu programmieren. Das sind alles Abwertungstendenzen, die aber dazu führen, dass der Einsatz dieser abgewerteten Arbeit immer attraktiver wird. Das heißt, die Entwicklung führt eben nicht zu einer technologisch bedingten Arbeitslosigkeit, sondern vielmehr zu einer Prekarisierung. Die zweite Entwicklung, die subjektive Dimension, habe ich im Rahmen meiner Untersuchung beobachten können, als ich selbst als Fahrradkurier und an einer Produktionslinie gearbeitet habe – nämlich, dass sich auch die Organisationskulturen unter den Beschäftigten ändern. Dort bildet sich eine Art von organisationeller Subkultur heraus, die sich stark vom Management abgrenzt. Gerade in Betrieben, in denen es keinen persönlichen Kontakt mehr zwischen Management und Beschäftigten gibt, ist das besonders ausgeprägt. Weil viele diese Abwertung eben auch als Würdeverletzung empfinden und sich als Roboter behandelt fühlen. Daher ist das Selbstverständnis wesentlich durch eine Abgrenzung vom Management definiert. Man grenzt sich von den „Hipstern in Berlin“ ab, die nur irgendwelche unnützen Sachen machen, während man selbst die eigentliche körperliche Arbeit leistet.

Das klingt nach einem ‚digitalen Klassenbewusstsein‘.

Der Begriff Klassenbewusstsein ist immer ein wenig schwierig, weil er davon ausgeht, dass die Leute sich überEinsichten bewusst werden, die man theoretisch konstruiert, und das finde ich soziologisch immer etwas schwierig. Was man aber auf jeden Fall sagen kann ist, dass sich quasi eine Praxis konsolidiert, die in der Tat auf Klassenkonflikte hinaus läuft. Diese Formen informellen Ungehorsams würde ich durchaus als neue Klassenkonflikte beschreiben, sie bleiben aber auf die Formen der Beschäftigung beschränkt, deren Arbeit tatsächlich hauptsächlich aus demAbarbeiten von Computeranweisungen besteht. Diese Praxis könnte sich ausweiten und an Macht gewinnen, wenn sie sich über das Beschäftigungsfeld der kybernetisch Proletarisierten hinaus bewegt, indem diese sich mit anderen Beschäftigten verbünden – beispielsweise mit denen, die diese Systeme programmieren.

 

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Interview: Christopher Dröge

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