Solingen, 17.3. – Rückblickend wirkt der Herbst 2015 vielleicht sogar noch ein Stück weit bemerkenswerter als damals. Niemals für möglich gehaltene Massen an Flüchtlingen kommen nach Deutschland. Die Solidarität scheint grenzenlos. Willkommenskultur hat Hochkultur. Und immer wieder wurde dieser eine Satz der Bundeskanzlerin zitiert: „Wir schaffen das.“ Seither gibt es viele Diskussionen in Deutschland. Und weltweit haben nicht für möglich gehaltene Entwicklungen des Populismus stattgefunden.
Es ist also durchaus gerechtfertigt, von einer Zeitenwende zu sprechen. Und eine solch historische Dimension verlangt natürlich auch nach einer künstlerischen Auseinandersetzung. So machten sich 2015 an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg mehrere Gruppen von Filmstudenten auf den Weg, die Situation in mehreren Kurzfilmen zu dokumentieren.
„Research Refugees“ heißt das Ergebnis: Eine Sammlung von elf Kurzfilmen, die im letzten Jahr bereits eine größere Kinotour hinter sich gelegt hat. Im Rahmen der dritten Solinger Antirassismus-Tage war die Filmreihe nun in der Solinger Cobra zu Gast.
Die Ankunft der Flüchtlinge hat sehr grundsätzliche Fragen aufgeworfen. Diese Stimmung des Herbst 2015 greifen die Filme hervorragend auf. Da ist der Film einer jungen Schweizerin, die sich fragt, was gewesen wäre, wenn Sie nicht in die heutige Wohlstandsgesellschaft hineingeboren wäre, sondern im selben Land 100 Jahre früher in bitterer Armut aufgewachsen wäre. Ein anderer Film beschäftigt sich mit dem schwierigen Erbe der Nazi-Zeit und der bis heute nachwirkenden Ästhetisierung des damaligen Wahns. Zum Höhepunkt schneidet die Regisseurin ankommende Flüchtlinge mit maßloser Wagner-Musik zusammen. Eine Provokation, die zum Zeitenriss zu passen scheint. Andere Filme dokumentieren die große Hilfsbereitschaft und den schwierigen Alltag in Flüchtlingsunterkünften von Mytilini/Griechnland bis Berlin-Zehlendorf Deutschland. Die einhellige Aussage: Etwas Neues ist da. Aber niemand scheint so richtig zu wissen, wie man damit umgehen soll.
Sind wir heute, knapp zwei Jahre später, klüger? Diese Frage steht bei der anschließenden Filmdiskussion im Mittelpunkt. Neben dem Filmemachern Felix Pauschinger und Tobias Wilhelm, die jeweils einen Kurzfilm zu „Research Refugees“ beigesteuert haben und Reinhard Burski von der Initiative „Grefrath Hilft" ist auch der Solinger Oberbürgermeister Tim Kurzbach gekommen. Als besonderen Gast konnten die Organisatoren dazu den ehemaligen WDR- und ARD-Chef Fritz Pleitgen gewinnen.
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, das ist in Solingen, nachdem die Stadt durch den ausländerfeindlichen Brandanschlag von 1993 traurige Berühmtheit erlangte, immer ein ganz besonders wichtiges Thema. Viele Initiativen für eine tolerante Gesellschaft haben sich seitdem gegründet. Der OB betont deshalb, wie dankbar er für die unzähligen ehrenamtlich engagierten ist, ohne die man den Flüchtlingsansturm von damals nicht hätte bewältigen können.
Doch dann kommt die Debatte auch auf das Jahr 2017 zu sprechen. Die Anwesenden sind sich einig: Während aus der Improvisation im Umgang mit den vielen Neuankömmlingen System geworden ist, haben die Spannungen in der Gesellschaft, die aus der Folge der Flüchtlingsdebatte entstanden sind, eher zugenommen. „Ich bekomme immer mehr, dieser Aber-Briefe, in denen gegen Fremde gehetzt wird“, sagt OB Kurzbach. Gleichzeitig registriere man mit Erstaunen, dass zahlreiche Mitbürger mit türkischen Wurzeln, die seit Jahrzehnten in Deutschland registriert sind, plötzlich hinter ihren autokratischen Präsidenten in der alten Heimat stellen.
„Wir haben 2015 in der Illusion gelebt, dass wir ein unheimlich solidarisches Land sind“, sagt Fritz Pleitgen. Im Kern stimme das auch nach wie vor. Aber die Diskussionen, welche die Ankunft der Flüchtlinge ausgelöst habe, hätten eben auch gezeigt, dass es andere Stimmen im Land gebe, mit denen man sich ernsthaft auseinandersetzen müsse.
„Wir müssen aufpassen, dass die rechten Kräfte die Debatte nicht an sich reißen“, rät der ehemalige ARD-Chef. Gleichzeitig wirbt er dafür, die Meinungsfreiheit in Deutschland großzügig auszulegen und nicht in Versuchung zu geraten, ähnliche Restriktionen einzuführen wie autokratische Länder. Außerdem macht er auf die besondere Verantwortung der Schulen und der Medien im aktuellen Diskurs aufmerksam. Und dann kommt er noch einmal auf die gezeigten Filme zurück: „Diese Filme haben mir sehr gut gefallen. Sie sollten einem viel breiteren Publikum gezeigt werden und nicht nur denjenigen, die sich sowieso bereits für Toleranz engagieren.“
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Viele Menschen haben mir geholfen“
Mahmoud Wodayhi macht sich nach einem „Todestrip“ selbständig – Heimat Wuppertal 01/18
Hagener Bühne für den Filmnachwuchs
„Eat My Shorts“ in der Stadthalle Hagen – Foyer 11/24
Kunst des Nicht-Wegschneidens
„Anna Zeit Land“ im Filmforum – Foyer 10/24
Restitution von Kolonialraubkunst
„Dahomey“ und „The Story of Ne Kuko“ im Filmforum – Foyer 10/24
Der Sieg des Glaubens
„Führer und Verführer“ im Kölner Odeon mit Regisseur Joachim Lang – Foyer 07/24
Der Tod, der uns verbindet
NRW-Premiere von Eva Trobischs „Ivo“ – Foyer 06/24
Sieben Spitzenprämien-Gewinner
Kinoprogrammpreis-Verleihung in der Wolkenburg – Foyer 11/23
„Wir müssen begreifen, wozu wir fähig sind“
NRW-Premiere „Die Mittagsfrau“ im Kölner Cinenova – Foyer 10/23
Mysteriöses auf schottischem Landsitz
„Der Pfau“ im Cinedom – Foyer 03/23
Alle Farben der Welt
37. Teddy-Award-Verleihung bei der 73. Berlinale – Foyer 02/23
Drei NRW-Filme im Berlinale-Wettbewerb
20. NRW-Empfang im Rahmen der 73. Berlinale – Foyer 02/23
Hochwertiges deutsches Filmschaffen
Verleihung des Preises der Deutschen Filmkritik 2022 auf der Berlinale – Foyer 02/23
Endlich wieder gemeinsam feiern
Sommer-Branchentreff 2022 in der Wolkenburg – Foyer 06/22
Star mit großem Einfühlungsvermögen
Kinoprogrammpreisverleihung 2019 im Gloria – Foyer 11/19
Kurz und knackig
Kurz.Film.Tour. in der Lichtburg Oberhausen – Foyer 09/19
Kino ist ihr Leben
Kinoprogrammpreisverleihung 2018 im Gloria – Foyer 11/18
Fernsehen der Zukunft
Verleihung der Adolf-Grimme-Preise 2018 in Marl – Foyer 04/18
Bunter Abend für die Kinobetreiber
Kinoprogrammpreisverleihung 2017 in Köln – Foyer 11/17
Treffen der Kinofamilie
Sönke Wortmann, Frank Goosen Lucas Gregorowicz und Anna Bederke präsentierten „Sommerfest“ im Rex – Foyer 06/17
Dem Kleinbürgeridyll ein Schnippchen geschlagen
Lars Montag präsentierte am 6.5. „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ im Rex – Foyer 05/17
Heimat mit Hindernissen
Lisei Caspers präsentierte den Dokumentarfilm „Gestrandet“ im Rex – Foyer 03/17
Die wundersame Welt des Bazon Brock
„Bazon – Ernste Scherze“ zum Auftakt der Reihe „Filme zur Kunst“ im Skulpturenpark Waldfrieden
Ein Stück Zeitlosigkeit
Wim Wenders präsentierte „Die schönen Tage von Aranjuez“ im Wuppertaler Rex – Foyer 01/17
Der Wuppertaler Weg
Refugees Night am 1.12. im Swane Café mit zwei Filmvorführungen – Foyer 12/16
Träumen von einer besseren Zukunft
Filmdiskussion zu „Mensch:Utopia“ in Utopiastadt – Foyer 11/16