Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
23 24 25 26 27 28 29
30 31 1 2 3 4 5

12.582 Beiträge zu
3.812 Filmen im Forum

„Das Buch Witsch“ bei KiWi (2014)Starker Opportunist
Bild: KiWi-Verlag

Starker Opportunist in schweren Zeiten

11. Dezember 2014

„Das Buch Witsch“ erzählt die politische Geschichte des Mitgründers des KiWi-Verlags – Literatur in NRW 12/14

Joseph Caspar Witsch (JCW) gilt als einer der großen Verleger der alten Bundesrepublik. Er war nicht nur ökonomisch erfolgreich, sondern prägte auch wesentlich das literarische und das (kultur)politische Leben mit. Bei Kiepenheuer & Witsch publizierten Heinrich Böll und Vicki Baum, Ignazio Silone und Don Delillo, Wolfgang Leonhard und Günter Wallraff, Manès Sperber, Saul Bellow, Julian Barnes und Gabriel Maria Márquez, Erich Maria Remarque oder Dieter Wellershof. „Umso erstaunlicher ist es“, heißt es vor diesem Hintergrund im Vorwort, „dass über den Lebensweg JCWs im Vergleich zu den sogenannten Gründerfiguren des bundesrepublikanischen Verlagswesens wenig bekannt war und ist.“ Dem soll nun der vorliegende Band abhelfen, der sich – so der Autor – „Witsch I, dem homo politicus“ widmet. Der Folgeband wird sich mit „Witsch II, dem literarischen Verleger“ beschäftigen.

Frank Möller
Frank Möller, Foto: privat
Frank Möller ist Historiker und Publizist. Von ihm erschienen u. a.: Zukunftsprojekt Westwall. Wege zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit den Überresten der NS-Anlage, Weilerswist 2008 (hrsg. zus. m. Karola Fings); Das Buch Witsch. Das schwindelerregende Leben des Verlegers Joseph Caspar Witsch, Köln 2014, 778 S.

„Es ist nicht leicht, eine Biographie zu schreiben“, zitiert Möller gleich mehrfach Marek Hlasko, der diesen Satz JCW anlässlich dessen 60. Geburtstags zuschrieb. Eine treffende Aussage: JCW wächst in Köln auf, wechselt 1936 nach Jena und wird oberster Volksbibliothekar von Thüringen, ist Mitglied der NSDAP, baut nach Kriegsende das Bibliothekswesen in der SBZ mit auf, wird nun via SPD SED-Mitglied und trägt auch das Parteiabzeichen, geht in den Westen, als ihm in Jena NS-Verstrickungen vorgeworfen werden. Wieder am Rhein gründet er den Verlag nicht ohne Streit und wird im Kalten Krieg mit Titeln wie ‚Berliner Kreml‘ der „Hausverleger“ des Ministeriums für gesamtdeutsche Fragen und deutsche Adresse des weltweit agierenden antikommunistischen „Kongresses für kulturelle Freiheit“, der wiederum vom der CIA finanziert wird. Zu den verlegerischen Tätigkeiten gehört auch die Bereitstellung konspirativer Literatur für die DDR. JCW gilt als charmanter bis charismatischer Gesprächspartner, als kollegialer und fürsorglicher Chef, der schon als Bibliothekar vor allem die „Fachlichkeit“ im Blick hatte. Nicht erst als Verleger konnte er seine Mitarbeiter begeistern. Er ist darauf bedacht, allzu linke Ansichten aus seinem Verlagsprogramm fern zu halten, zugleich einer der ersten, die Bücher über die NS-Zeit auflegen. Das Programm ist dabei durchaus ausgewogen. Neben den Memoiren des „einzig anständigen“ NS-Generals Frido von Senger und Etterlin oder des SS- und RSHA-Mannes Walter Schellenberg (mit kritischem Kommentar versehen) werden etwa die erste umfassende Darstellung der Nürnberger Prozesse oder William L. Shirers „Aufstieg und Fall des Dritten Reiches“ publiziert. Die Reaktionen auf diesen späteren „Klassiker“ sind beim Erscheinen ambivalent bis ablehnend. Witsch kommentiert erregt: „Natürlich passt den Leuten die ganze Richtung nicht, natürlich wollen sie nicht gern hören, wer alles dafür war, alles mitgespielt hat, die Herren vermissen jetzt die Tragik …“.

Die fachhistorische Unterstützung von Witsch blieb gering. Die damalige deutsche Historikerelite war nationalkonservativ und „an einer detaillierten Analyse des NS-Systems“ nicht interessiert. Sie mochte eher ihre traditionell idealistische und nationalpolitische Sicht der Dinge verteidigen. Freilich war auch Witsch beim Blick auf die NS-Zeit nicht immer so entschieden, insbesondere, wenn es um seine eigenen Aktivitäten ging. „Es gibt Zeiten, in denen der Mensch nur überleben kann, wenn er Opportunist ist“, bilanzierte er Anfang der 1960er Jahre. „Wenn (der Mensch) moralisch handelt und wenn er den Begriff der Freiheit und den Begriff des Menschen ernst nimmt, verlangen die Umstände von ihm, sich zu benehmen wie ein Held; (ein anderer), (der) das nicht ist, verlang(t) von ihm, sich anzupassen.“ Etwa zeitgleich konstatierte er, „dass in diesem augenblicklichen Punkt der Geschichte für uns der Nationalsozialismus eine erledigte Gefahr, der Bolschewismus aber eine von Tag zu Tag zunehmende Bedrohung unserer Freiheit darstellt“. Die umfängliche Biographie (erster Teil) erzählt so manch „Schwindelerregendes“ über den bürgerlichen Verleger und entwirft zugleich ein Stück deutscher Mentalitätsgeschichte.

Frank Möller „Das Buch Witsch. Das schwindelerregende Leben des Verlegers Joseph Caspar Witsch“, 778 S., Köln 2014, Kiepenheuer & Witsch

Wolfgang Hippe

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Mufasa: Der König der Löwen

Lesen Sie dazu auch:

Wie riecht ein Text?
Der Duft als geheimer Sinnstifter unseres Lebens – Textwelten 03/17

Trauma einer ganzen Generation
Andreas Fischer präsentierte „Töchter ohne Väter“ im Bürgerbahnhof Vohwinkel – Foyer 04/16

Pleasure not to kill
Thees Uhlmann über sein Romandebüt und seine Liebe zu Kreator – Literatur-Portrait 12/15

Nicht originell, aber substanziell
Deutsche Gegenwartsliteratur ist besser als ihr Ruf – Textwelten 04/15

Girls mit Speed im Blut
Jenni Fagan und Stefanie de Velasco am 19.3. auf der lit.Cologne – Literatur in NRW 03/14

Ein Wirbelsturm im Kopf
Ruth Ozeki am 17.3. auf der lit.Cologne – Literatur in NRW 03/14

Tod auf dem Rhein
Emmanuèle Bernheim am 18.3. auf der lit.Cologne – Literatur in NRW 03/14

Ausgehungert
Auf der lit.Cologne stellt David Peace seinen großartigen Roman „GB84“ vor – Literatur in NRW 03/14

Ein deutsches Panorama, schmutzig und lustvoll
Clemens Meyer präsentiert seinen Roman „Im Stein“ auf der lit.Cologne – Literatur in NRW 03/14

Sensationelle Texte und Fotografien
Lee Miller gewährt den anderen Blick auf Deutschland 1945 – Literatur in NRW 01/14

Literatur.

HINWEIS