Sie gehörte zu den Persönlichkeiten, die in der Welt der Kunst des 20. Jahrhunderts unauslöschliche Spuren hinterlassen haben. Als Lebensgefährtin von Man Ray inspirierte sie den Amerikaner zu seinen besten Arbeiten. Lee Miller arbeitete als Model für Vogue und war zugleich eine großartige Fotografin. 1944 erstritt sie gegenüber der Redaktion der englischen Vogue das Recht, als Korrespondentin die alliierten Truppen bei ihrem Feldzug durch Westeuropa zu begleiten. Eine schöne Frau, die sich den Stahlhelm aufsetzte und an der Seite der GIs die Kämpfe in der Normandie erlebte, die über das Leid der Zivilbevölkerung berichtete und bei der Befreiung des KZ Buchenwald dabei war.
Die Texte zu ihren Fotografien schrieb sie selbst, nachdem sie hatte erleben müssen, wie man in den Redaktionen mit ihren Bildern umgegangen war. Diese Frau, die den größten Teil ihres Erwachsenenlebens in Künstlerkreisen verbracht hatte, besaß einen scharfen Blick für die Realität des vom Kriege heimgesuchten Europas. In der Edition Tiamat erscheint jetzt unter dem Titel „Krieg“ eine Sammlung ihrer Reportagen, Briefe und Artikel, die eine außerordentliche Entdeckung darstellen. Unmittelbar spricht hier eine weibliche Stimme über das Schicksal der Soldaten, über die zerstörten Städte und das Chaos der wechselnden Frontverläufe. Man liest diese Texte mit angehaltenem Atem, so frisch klingen sie und so konkret wird der Ausnahmezustand Krieg beschrieben. Anekdoten und Alltag verflechten sich auf eine Weise, die alle Vorstellungen von Normalität hinter sich lassen. Lee Miller war zweifellos eine großartige Korrespondentin.
In Frankreich lässt sich ihr Blick noch vom Charme und dem Erfindungsreichtum, den die Menschen in ihrer Not entwickeln, zu einem nachsichtig lächelnden Blick verführen. Die Amerikanerin schaut hin, wenn sich die schönen Mannequins in der Mittagspause ein paar Momente Ruhe gönnen, während in den Straßen von Paris noch geschossen wird. Mit dem Grenzübertritt nach Deutschland erkaltet dieser Blick. Im Winter 1945, der mehr Tote als die gesamte vorherige Kriegszeit gefordert hatte, erreicht sie im Zuge der US Army „Köln im März 1945“. Unter diesem Titel präsentiert der Greven Verlag eine aufschlussreiche Sammlung von Fotografien, die sie in den verschiedenen Stadtteilen Kölns aufnahm. Die ungeheure Wucht der Zerstörung fällt sofort ins Auge. Einen Monat vor Ende des Krieges präsentiert sich die Stadt als Inferno, da auch der Schutt noch nicht bei Seite geräumt ist. Ein Schlachtfeld, das freilich von Menschen bevölkert ist. Lee Miller hat Augen für diese Menschen, für die GIs und für die verbliebenen Einwohner der Stadt, die sie mit deutlicher Distanz aufnimmt und vor allem für die befreiten Gefangenen. Ein Kapitel zeigt Aufnahmen aus dem Klingelpütz, dem Gefängnis, in dem die Gestapo folterte und mordete. Die Bilder wurden von Lee Miller nach Paris und New York in die Redaktionen der Vogue geschickt, ebenso wie das Foto eines toten Flakhelfers – noch ein Junge – dessen Anblick auf dem Frühstückstisch jenseits des Atlantiks zu sehen war. Aufnahmen, die in einer Zeitschrift gedruckt wurden, deren Kerngeschäft die Mode war. In zwei kenntnisreichen und gut geschriebenen Essays von Kerstin Stremmel und Walter Filz wird der Lebenshintergrund von Lee Miller aufgeschlagen und die Bedeutung ihrer Fotografien gewürdigt.
Der Wert dieses Materials ist schon alleine deshalb groß, weil uns diese Aufnahmen einen Blick auf eine historische Realität gewähren, den wir zuvor nicht besaßen. Lee Miller fotografierte vollkommen anders als alle deutschen Fotografen. Sie liefert uns nicht alleine Bilder der konkreten Situation in der Stadt. Im Gegensatz zu Fotografien von Hermann Claasen oder später Karl Hugo Schmölz, die jeder auf seine Weise die Ruinenlandschaft religiös oder ästhetisch überhöhten, zeigt sie die Eingeweide der Stadt. Sie fotografiert das schmutzige Leben, die kleinen freudigen Momente der Erleichterung, und nebenbei zeigt sie uns, dass mancher Straßenzug noch existierte, der dann später in den Aufbaujahren ohne Not abgerissen wurde.
Ein Buch, das man immer wieder anschauen muss, auch deshalb, weil die Bilder brillant komponiert sind. Lee Miller verstand etwas von Perspektive und sie besaß die künstlerische Klasse, den Kanon der Kadrierung dort aufzubrechen, wo es notwendig war. Großartig, dass uns diese beiden Publikationen nach fast 70 Jahren noch wirkliche Entdeckungen einer beklemmenden Zeit und einer faszinierenden Künstlerin bieten.
Lee Miller: Krieg. Mit den Alliierten in Europa 1944-1945 | Hrsg. Antony Penrose | Aus dem Englischen von Andreas Hahn u. Norbert Hofmann | Edition TIAMAT | 272 S., 24 €
Lee Miller: Köln im März 1945 | Hrsg. Historische Gesellschaft Köln e.V | Greven Verlag | 112 S., 24,90 €
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