engels: Herr Krüger, Sie sagten in einem Interview, dass die Lebenserwartung von Menschen mit guten Freundschaften rund 20 Jahre länger ist als bei Menschen ohne stabile Freundschaften. Ist das immer noch so?
Wolfgang Krüger: Das würde ich heute immer noch so sagen. Es ist sogar so, dass in den vergangenen Jahren die Bedeutung weiter gestiegen ist. Das betrifft sowohl Liebesbeziehungen als auch Freundschaften: In der vergangenen zehn Jahren ist zu beobachten, dass Liebesbeziehungen wieder länger halten und man sich auch zunehmend um sie kümmert. Und auch das Interesse an stabilen und engen Freundschaften hat zugenommen. Allerdings ist auch zu beobachten, dass die Bindungen innerhalb der Familie abgenommen haben.
Was hat sich durch Corona und die Digitalisierung geändert?
Das Bedürfnis nach Freundschaften ist durch die aktuelle gesellschaftliche und politische Situation noch einmal stärker geworden. Wir leben in einer Zeit großer Unsicherheit mit der Pandemie, der Klimakatastrophe und nun auch dem Ukraine-Krieg. In solchen Zeiten ist das Bedürfnis nach Geborgenheit und Sicherheit in Form von engen zwischenmenschlichen Beziehungen um so größer. Auch die Digitalisierung wirkt sich sogar positiv aus, was man zuerst gar nicht gedacht hätte. Kurz nach der Einführung von Facebook gab es für eine Weile einen großen Hype, der befürchten ließ, dass unter den sozialen Netzwerken am Ende die realen Beziehungen leiden oder gar ersetzt würden. Aber das war wirklich nur am Anfang so. Sehr schnell haben wirklich alle Altersgruppen gemerkt, dass Facebook kein Ersatz ist für das reale Erleben eines Menschen, den man sehen, fühlen, riechen, spüren kann. Einen Ersatz für reale Beziehungen stellen die sozialen Netzwerke in der Regel nur für sehr ängstliche Menschen dar, die vielleicht gar nicht rausgehen und ohne diese vermutlich völlig isoliert wären. Ansonsten sehen die meisten Facebook & Co. inzwischen als Hilfsmittel an, um mit Menschen in Kontakt zu sein und zu bleiben.
„Es gibt zwei große Schwachstellen im Leben: Unsicherheit und Einsamkeit“
Was macht denn eine gute Freundschaft aus?
Da verwende ich gerne den Begriff der „Herzensfreundschaften“, der von Aristoteles stammt. Damit sind ganz lange und innige Freundschaften gemeint, die auch mal Krisen erlebt und überstanden haben. Die beiden wichtigsten Faktoren bei den Herzensfreundschaften sind zum einen, dass man sich wirklich alles erzählen kann. Und zum anderen Verlässlichkeit, also zu wissen und zu erfahren, dass man sich in Krisensituationen immer auf den anderen verlassen kann. Von diesen Herzensfreundschaften hat man vielleicht drei im Leben. Ansonsten spreche ich immer vom Zwiebelprinzip: Dann gibt es vielleicht noch rund zwölf Alltagsfreundschaften und dann hat man in der Regel ein noch größeres soziales Netzwerk, das beispielsweise Bekanntschaften aus einem Chor, dem Sportverein etc. beinhaltet. Diese zusammen bilden unser soziales Dorf, in dem wir leben und das wir auch brauchen. Denn es gibt zwei große Schwachstellen im Leben: Das sind Unsicherheit und Einsamkeit. Und selbst die Zugehörigkeit in einem Verein gibt uns das Gefühl, nicht anonym zu sein, aufgehoben zu sein und an gewissen Stellen die Welt mitgestalten zu können.
Wie sollte man Freundschaften pflegen?
Viele vergessen, dass die wichtigste Freundschaft die mit uns selbst ist. Das ist für alle unsere zwischenmenschlichen Beziehungen der Resonanzboden. Und dann müssen wir uns für Freundschaften Zeit nehmen. Es heißt nicht von ungefähr, dass Freundschaft die kleine Schwester der Liebe sei. Also auch hier muss man Zeit investieren. Ich empfehle immer, sich einen Abend pro Woche Zeit zu nehmen, um Freundschaften zu pflegen. Also sich zu verabreden oder aber auch einfach zu telefonieren oder zu schreiben. Und eine weitere Empfehlung meinerseits ist, eine Art Freundschaftskultur zu entwickeln. Wir entfalten viel Kreativität, wenn es darum geht, den Partner, die Partnerin zu überraschen – bis hin zu Geigen am Sandstrand. Warum übernehmen wir nicht mal diese Modelle aus den Liebesbeziehungen und schreiben Freundschaftsbriefe an die besten Freunde? Oder als weiteres Beispiel: Die Freunde, die inzwischen unsere Herzensfreunde sind, sind in der Regel nicht mehr die, mit denen wir die Kindheit verbracht haben. Da kann es auch schön sein, mal einen Abend gemeinsam in Fotoalben zu stöbern, um auch diese Zeit im Leben der Freunde kennenzulernen.
Was sind erste Anzeichen dafür, dass eine Freundschaft sich ins Negative entwickelt?
Zu einer Freundschaft gehört natürlich auch immer eine gewisse Konfliktfähigkeit, denn wir sind alle keine perfekten Menschen. Es ist also wichtig, Dinge diplomatisch, aber entschlossen anzusprechen. Erstes Anzeichen dafür, dass eine Freundschaft sich ins Negative entwickelt, ist beispielweise, wenn man sich nach einem Telefonat nicht gut fühlt. Das ist häufig zunächst nur ein Bauchgefühl, ein Ärger über ständige Kritik oder auch Unpünktlichkeit bei Treffen, woraus sich dann Wut entwickeln kann. Wenn sich das über Wochen hinzieht, wird es schwierig und man muss sich die Frage stellen, ob einem die Freundschaft das wert ist. Ganz unbewusst stufen wir dann für uns innerlich die Freundschaft ab. Sie wird weniger wichtig, der Kontakt seltener.
„In der Regel laufen Freundschaften einfach aus“
Wann ist ganz klar ein Schlußstrich zu ziehen?
Es gibt eigentlich drei Gründe, eine Freundschaft zu beenden: Das geschieht, wenn wir unheimlich gekränkt sind, also beispielsweise die beste Freundin etwas rumerzählt hat, das man ihr im Vertrauen gesagt hat. Dann ist das Selbstbewußtsein so beschädigt, dass man die Freundschaft beendet. Auch Verhaltensweisen, die auf Dauer nicht akzeptabel sind, wie ständige Unpünktlichkeit oder auch das Schnorren von Geld, ohne es jemals zurückzuzahlen, führen zum Bruch. Und als Drittes gehen Freundschaften in die Brüche, die schlicht langweilig geworden sind. Man hat sich einfach nichts mehr zu erzählen. Bei Freundschaften kann man aber gar nicht unbedingt von einer Trennung sprechen – die ist meistens nur dann der Fall, wenn etwas Gravierendes vorgefallen ist. In der Regel laufen Freundschaften einfach aus. Bei Liebesbeziehungen ist das natürlich alles um einiges schwerer.
Wie kann man als Außenstehender jemandem helfen, der in einer Beziehung oder Freundschaft steckt, die nicht gut tut?
Grundsätzlich darf man sich in diese Dinge natürlich nicht zu sehr einmischen. Das bringt in der Regel nichts oder bewirkt nur das Gegenteil. Ich empfehle in der Praxis dann immer, subversive Fragen zu stellen, also beispielsweise die, was der Freund an dem anderen (den ich nicht mag) gerne hat. Stellen Sie davon mal so 30 bis 40 Fragen.
(lacht) Das scheint mir aber eine fiese Methode zu sein!
Das ist eigentlich eine geschickte und intelligente Methode. Es wird nämlich nichts bringen, den anderen von der Freundschaft oder Beziehung abzubringen. Insofern ist alles, was Sie tun können, den anderen zum Nachdenken zu bringen. Und das erreicht man mit diesen Fragen.
UND TSCHÜSS - Aktiv im Thema
zeit.de/zett/2020-06/es-ging-immer-nur-um-sie-so-setzt-du-grenzen-in-toxischen-freundschaften | Anschaulicher Beitrag über ungesunde Freundschaften.
profamilia.de/themen/sexualitaet-und-partnerschaft/trennung-und-scheidung | Der Beratungsverbund gibt Orientierung bei familiären und partnerschaftlichen Trennungen.
lisa.gerda-henkel-stiftung.de/audio_freundschaft?nav_id=6793 | Ein philosophisches Gespräch über Freundschaft im Podcast der Gerda Henkel Stiftung.
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