Eigentlich fehlt nur noch die schwarze Mühle irgendwo im Hintergrund. Dieses unheimliche, trostlose Dorf mit seinen finsteren Häusern und dem abergläubischen, magischen Gekritzel an den Wänden (Bühne: Klaus Grünberg), es kommt einem irgendwie bekannt vor. Krabat, der Zauberlehrling aus der sorbischen Sagenwelt, könnte jederzeit um die Ecke kommen. Und in der Tat ist die Assoziation naheliegend: Wir befinden uns in einer düsteren Zeit unmittelbar nach Ende des Dreißigjährigen Kriegs. Gottvertrauen und Zuversicht sind endgültig verflogen, der Glaube an das Böse dafür umso stärker. An diesem Abend wird – wie in der Krabat-Sage - auch eine schöne „Kantorka“, eine Sängerin, im Dorf erscheinen und ihrem Liebsten den Kopf verdrehen. Bloß mit dem Happy End und der Erlösung durch die weiße Taube wird es dieses Mal nichts. Tatjana Gürbaca, eines der zurzeit erfolgreichsten deutschen Talente der Opernregie, hat sich für das Essener Aalto-Theater gut zwei Jahre nach Wagners Lohengrin nun Carl Maria von Webers „Freischütz“ vorgeknöpft – und ihm den wohlig-romantischen Schauer ziemlich radikal ausgetrieben.
In der Schlüsselszene zu Gürbacas Deutung kommt ihr Hang zum Blutigen erneut zum Vorschein: Kaspar, der skrupellose, vom Krieg enthemmte Verbrecher, reißt Max die „Freikugeln“ mit bloßen Händen aus dem Leib – statt sie zu gießen. Und es ist nicht der Teufel alias Samiel, der aus dem Off die Kugeln mitzählt, sondern die gesamte Dorfgemeinschaft. Sie haben allesamt den Teufel im Leib. Und sie machen sich gegenseitig das Leben zur Hölle. Der finstere Tümpel auf dem Dorfplatz scheint das Tor in grauenhafte Albträume zu sein.
Ist es der Krieg, der sie psychisch so deformiert hat? Oder gibt es den Krieg, weil die Menschen nun mal so sind? Gürbaca lässt das offen. Allerdings legen die wechselnden Kostüme von Silke Willrett einen weiten Streifzug durch die deutsche Geschichte mit all ihren Kriegen auf dezente Art nahe. Im Schlussakt lassen dann eingeblendete Fotos keinen Zweifel mehr, dass die Regie zunächst im Zweiten Weltkrieg und dann auch in unserer Zeit angekommen ist.
Der Freischütz gilt als deutsche „Nationaloper“ – was vor allem wohl am deutschen Wald, dem Inbegriff der Romantik liegen dürfte. Doch der kommt hier allenfalls als düsterer Lamellenvorhang im Hintergrund vor. Die Wolfsschlucht ist indes das Dorf selber. Die Gewalt lauert dort überall.
Tomáš Netopil muss am Dirigentenpult glücklicherweise nicht ganz so radikal mit der Romantik brechen, Waldidyll und wabernde Nebelschwaden sind durchaus zu hören. Aber der Maestro hütet sich davor, ins Folkloristische abzugleiten. Die Besetzung passt gut zur Erzählung. Maximilian Schmitt hat das jugendlich Strahlende in der Stimme, das ihn zu einem positiven Außenseiter macht, der vom Krieg verschont geblieben ist. Jessica Muirhead singt ihre Partie zwischen Zweifeln, Bangen und Hoffen mit hoher Intensität. Heiko Trinsinger gelingt die Entwicklung vom skrupellosen Raubein zum mörderischen Dämon mit Kraft und Schwärze. Tamara Banješević gibt ein selbstbewusstes Ännchen, das über ihre Partie hinauswächst und aufhorchen lässt. Der Chor (Leitung: Jens Bingert) erfüllt seine tragende Rolle mit einem weiten Ausdrucksspektrum zwischen ausgelassener Fröhlichkeit, ätzender Boshaftigkeit und schierem Wahnsinn. Eine starke Leistung.
„Der Freischütz“ | R: Tatjana Gürbaca | 15.3., 8.5., 7.6. 19 Uhr | Theater Essen | www.theater-essen.de/oper
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