Nein, es gibt nichts Tröstliches in dem Erinnerungsraum, in dem Paul seit dem Tod seiner geliebten Marie verharren muss. Es ist die nackte, kalte Verzweiflung der Leichenhalle, in der Paul gefangen ist. Die Edelstahlpritsche ist ein Stück weit aus dem Kühlfach herausgezogen. Darauf die abgedeckte Leiche, von der nur die blonden Haare zu sehen sind. Und noch bevor das Orchester zur Ouvertüre ansetzt, hallt Pauls verzweifelter Schmerzensschrei durch den Saal.
Dass mit der „toten Stadt“, in der Paul – zumindest äußerlich – lebt und die Wolfgang Korngolds Oper ihren Titel gab, das flämische Brügge gemeint ist, wird an dem Abend keine Rolle spielen. Die tote Stadt ist ein Ort in Pauls Kopf. Und entsprechend haben Immo Karaman (Regie und Bühne) und Fabian Posca (Kostüme und Choreografie) einen teils bedrückenden, teils grellen und beängstigenden Psychotrip auf die Bühne der Wuppertaler Oper gebracht. Es geht um Trauer und Verzweiflung, Angst und Schuldgefühl, nicht zuletzt auch um Liebe.
Im zweiten Bild erfährt das Publikum, wie Marie zu Tode gekommen ist: Ihr Wagen liegt auf dem Dach, aus dem Motorraum quillt Rauch, eine Flamme züngelt aus dem Unterboden. In Pauls Kopf ist das alles noch präsent – und vermischt sich mit der Gegenwart: mit Marietta, der Paul verfallen ist, weil sie der toten Marie so ähnlich sieht (Hitchcocks Holywood-Klassiker „Vertigo“ lässt grüßen) und um die er nun Angst hat, weil sie sich – in seinen Augen – mit einer reichlich halbseidenen Gesellschaft herumtreibt. Paul ist von moralischen, insbesondere auch sexualmoralischen, religiös beeinflussten Zwangsvorstellungen bestimmt. Er glaubt, die Reinheit der Toten mit allen Mitteln verteidigen zu müssen. Für Marietta wird die Besessenheit zur handfesten Gefahr.
Es ist eine schlüssige wie in ihren Bildern eindringliche Deutung, die Regiestar Karaman als Wuppertaler Erstaufführung (fast 100 Jahre nach der Uraufführung) der symbolistischen Korngold-Oper auf die Bühne gebracht hat. Das Unheimliche und Schockierende liegt Karaman ganz besonders, wie sich hier wieder zeigt. Der Erste Kapellmeister Johannes Pell dirigiert die spätromantisch geprägte Partitur mit ihren starken Effekten und ihrem klanglichen Facettenreichtum mit Akkuratesse und ausgeprägtem Sinn für eine dichte Atmosphäre. Für die Protagonisten war die Premiere jeweils ein Debüt. Für US-Tenor Jason Wickson sogar sein Deutschlanddebüt. Die gequälte Seele des Paul vermag er sehr eindringlich und glaubhaft zu vermitteln. Aber er wirkt zunächst auch ein wenig gehemmt, vielleicht nervös. Er braucht etwas Zeit, um sich frei zu singen, kämpft mit einigen sehr hohen Passagen in der Kopfstimme. Seine starke Identifikation mit der Rolle aber wiegt das wieder auf. Die Getriebenheit und Zerrissenheit der Figur wird hör- und nachvollziehbar.
Auch Susanne Serflin singt erstmals in Wuppertal. Als jugendlich-dramatische Sopranistin par excellence ist sie eine passgenaue Besetzung der Marietta mit einer jungen, aber auch warmen, charakteristischen Stimme, die über enorme dramatische Reserven verfügt. Sie gibt eine selbstbewusste Marietta, die auch ein wenig abgezockt sein kann, im Grunde aber doch aufrichtig liebt. Nützen wird es der Figur Marietta am Ende nicht. Doch die gequälte Seele Pauls kann sie erlösen.
„Die tote Stadt“ | R: Immo Karaman | So 30.6. 18 Uhr, Fr 12.7. 19.30 Uhr | Oper Wuppertal | 0202 563 76 66
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