engels: Frau Offenberg, Sie engagieren sich in dem Forum Bet Debora für Feminismus im Judentum. Wo verorten Sie sich im Spektrum zwischen liberalem und orthodoxem Judentum?
Ulrike Offenberg: Es geht ja immer darum, dass wir Menschen keine schizophrenen Wesen sind, die täglich ihr bürgerliches Leben führen und ihr religiöses Leben komplett davon abkoppeln können. Es geht immer darum, wie man stimmig beides miteinander leben kann. Die einen leben vorrangig nach religiösen Werten, koppeln sich von Alltagseinflüssen ab und versuchen nur die allernötigsten Kompromisse einzugehen, während andere eher auf das andere Ende der Skala wandern und vor allem im Hier und Heute leben. Und irgendwo in diesem Spektrum befinden sich alle Menschen, denen Religion irgendetwas bedeutet. Jüdischer Feminismus ist Teil dieser Auseinandersetzung. Wir sind moderne Frauen, gut ausgebildet, meistens Akademikerinnen und wollen uns nicht ablösen von unserer religiösen Tradition. Da muss man sehen, wie das eine das andere möglichst konstruktiv beeinflussen kann und nicht nur als Widerspruch und Restriktion wahrgenommen wird.
„Die schriftlichen Überlieferungen sind meistens männlich geprägt“
Was bedeutet das ganz konkret?
Das bedeutet die weiblichen Noten aufzuspüren, wo Frauen in der Geschichte ihre Spuren hinterlassen haben und wo sie auch das Judentum prägten. Die schriftlichen Überlieferungen sind meistens männlich bestimmt und so muss man erst mal herausfiltern, wo es Spuren von Frauen gibt. Wo sind diese Spuren Ausdruck der Auseinandersetzung der Frauen damals mit ihrer Tradition und ihrem Versuch, die Tradition lebendig zu praktizieren?
Prägt der jüdische Feminismus auch das Leben der Frauen in der Gemeinde?
Im liberalen Judentum hat sich mit dem Feminismus der sechziger Jahre vor allem herausgebildet, dass in allen Gottesdiensten und in allen religiösen und gemeindlichen Funktionen Männer und Frauen gleichberechtigt sind. Das ist im orthodoxen Judentum noch ein bisschen anders, aber auch dort gibt es jüdischen Feminismus und Bemühungen, die Präsenz von Frauen im öffentlichen jüdischen Leben stärker sichtbar zu machen. In stärkerer Partizipation im Gottesdienst und im Hinterfragen von Geschlechterrollen innerhalb der Familie.
„Eine große Herausforderung, weil das Judentum sehr stark familienorientiert ist“
Im Christentum und im Islam spielt das Thema Sexualität eine große Rolle, also zum Beispiel, inwiefern Homosexualität akzeptiert wird und wie Sexualkundeunterricht ablaufen sollte. Ist das in jüdischen Gemeinden auch ein Thema?
Es hängt natürlich vom Charakter der Gemeinde ab, wie dieses Thema diskutiert wird. In liberalen Gemeinden ist es kein wirkliches Thema mehr, die Sache ist durch und gegessen. Familien, die religiös traditioneller oder kulturell konservativer sind, also vor allem Familien aus der früheren Sowjetunion, wo Homosexualität etwas Unaussprechliches war, tun sich damit schwerer. Der weltweite Trend ist, dass es selbst in traditionsorientierten Kreisen wie dem orthodoxen Judentum starke Spannungen zwischen zwei verschiedenen Kräften gibt. Auf der einen Seite die, die sich gegen die Umwelt abschließen und alles andere, was in unserer Gesellschaft gelebt wird als sündig empfinden. Dort wird nicht darüber geredet und deshalb existiert es dann auch scheinbar nicht, weil man keine Sprache dafür hat. Auf der anderen Seite stehen andere orthodoxe Kreise, die durchaus versuchen das Thema zu integrieren. Eine große Herausforderung, weil das Judentum sehr stark familienorientiert ist und sobald dieses herkömmliche Familienbild erweitert wird, ist da noch sehr viel mehr zu verhandeln, als nur die Frage, ob es Sünde ist oder nicht.
„Beliebigkeit von Werten hat für viele Menschen etwas sehr Bedrohliches“
Ganz unabhängig vom Judentum: Können wir religiösen Fundamentalismus als einen Weg verstehen, mit unserer unübersichtlichen pluralistischen Moderne umzugehen?
Ganz unbedingt, da besteht ein starker Bedingungszusammenhang. Diese große Vielfalt bis hin zur Beliebigkeit von Werten hat für viele Menschen etwas sehr Bedrohliches. Religion soll ja Orientierung im Leben geben und dann sind solche Spielarten ein Ausdruck dafür, Gewissheit und Sicherheit zu finden. Einen Lebensstil, der einem ganz klar sagt, was richtig und was falsch ist. Da kommen seelische Nöte und Bedürfnisse zum Ausdruck. Über die soll man auch nicht lachen, denn jeder von uns hat sie und beantwortet sie unterschiedlich. Und für Leute, die sich für einen sehr rigiden religiösen Lebensstil entscheiden, hat dieser auch sehr viel Befriedigung. Während alle anderen, die die Grenzen weiter ziehen, eben auch in der Vielfalt zurecht kommen müssen. Dass man immer wieder die eigenen Entscheidungen neu erringen muss, ist sehr viel anstrengender. Oft wird gesagt, orthodoxer Lebensstil sei so schwer, weil es der Moderne so stark widerspricht und sich so auffällig abgrenzt, aber im Grunde genommen ist es der einfachere Lebensstil. Viel schwieriger ist es, täglich immer wieder zu beantworten, wie ich meine religiösen und ethischen Werte mit all den verlockenden Möglichkeiten um mich herum in Einklang bringe.
Nichtreligiöse Menschen schaffen sich häufig Ersatzreligionen, wie Konsum, Feiern oder Fußball.
Jede Zeit und jede Generation schafft ihre eigenen Regeln und Normen und wer sich da nicht so ganz zugehörig fühlt, hat es schwer soziale Kontakte zu finden. Das große Versprechen von Religionen ist, dass Menschen zu einer Gemeinschaft gehören können. Deswegen sind Gemeinden so wichtig. Menschen haben einfach ein starkes Bedürfnis nach Aufgehobenheit in einer Gemeinschaft, die über den familiären Rahmen hinausgeht.
„Religiöse Fundamentalismen möchten auch für andere Menschen definieren, wie richtiges Leben auszusehen hat“
Sehen Sie religiösen Fundamentalismus als ein Hemmnis für eine offene Gesellschaft?
Orthodoxes Judentum bemüht sich durchaus um Vereinbarkeit von modernem Leben und traditionellen Werten, während sich ultraorthodoxes Judentum durch die Zurückweisung der modernen Gesellschaft auszeichnet. Je liberaler die Gesellschaft ist, desto stärker sind dort die bewussten Abgrenzungsbewegungen. Das sind kulturelle Zusammenhänge, die gar nicht ursprünglich in den Schriften begründet sind. Religiöse Fundamentalismen sind auf jeden Fall eine Herausforderung für offene Gesellschaften, weil sie gerne auch für andere Menschen definieren möchten, wie richtiges Leben auszusehen hat. Und Demokratie hat da keinen Platz, denn die beruht auf Konsensfindung und Mehrheitsentscheidungen. Aber in der Regel sind religiöse Fundamentalisten eine Minderheit. Im demokratischen Wettbewerb würden sie zahlenmäßig verlieren. Gleichzeitig kann eine offene Gesellschaft nicht ignorieren, dass diese fundamentalistischen Bewegungen kulturelle Antworten auf Defizite innerhalb der Gesellschaft sind: Orientierungslosigkeit, mangelnde Kohärenz innerhalb der Gesellschaft oder mangelnde soziale Verantwortung. Solche Gruppen müssen Raum für ihre eigene Religionsfreiheit haben und auch für ihre selbstgewählte Abgeschiedenheit. In dem Moment, wo es übergriffig wird, muss eine Gesellschaft jedoch ganz hart und streng dagegen vorgehen.
Wie erleben Sie momentan den interreligiösen Dialog in Deutschland?
In den letzten 50 Jahren hat der jüdisch-christliche Dialog einen großen Fortschritt gemacht und in den letzten zehn Jahren gibt es auch zunehmend jüdisch-muslimische Dialoge oder auch Trialoge. Hier wollen sich Menschen in einer demokratischen Gesellschaft beheimaten und in einen Dialog treten und nicht in Abgrenzung oder Ausschluss gegeneinander. Wir sind neugierig, wie die kulturellen Antworten der anderen aussehen, denn oftmals bestehen ganz ähnliche Konflikte. Das erleben wir vor allem im jüdisch-muslimischen Dialog, wo sich ja zwei Minderheiten darüber verständigen, wie es ist, in einer christlichen Mehrheitsgesellschaft mit all ihren Herausforderungen zu leben. Überall ist Weihnachten, doch wo bleiben unsere Feste? Wo bleibt unsere Identität? Im letztem Jahr war es erträglicher, weil überall viel weniger Weihnachten war.
„Über Judentum wird meist in Form von drei Klischees berichtet“
In Deutschland leben 225.000 jüdische Bürger*innen, 95.000 davon in jüdischen Gemeinden. Trotzdem scheinen jüdisches Leben und jüdische Kultur in Deutschland nicht besonders präsent zu sein.
Das Bild des Judentums in Deutschland ist sehr geprägt von den Bedürfnissen der deutschen Mehrheitsgesellschaft, wie diese das Judentum sehen möchte und wie sie in ihrem Verhältnis zum Judentum gesehen werden will. Es ist immer sehr beliebt, möglichst große Synagogen wiederaufzubauen, oft auch so wie sie vor 1938 einmal waren, um so eine imaginäre heile Welt wieder herzustellen, die es angeblich in den Zwanziger Jahren mal gegeben hat. Das hat nichts mit den Bedürfnissen der aktuellen jüdischen Gemeinschaft hier zu tun. Wir brauchen keine riesigen Gebäude im historisierenden Stil, weil die Gemeinden selber in einer kulturellen, politischen und rechtlichen Diskontinuität zum Judentum der Zwanziger Jahre stehen. Über Judentum wird meist in Gestalt von drei Klischees berichtet: Chassidisches Judentum, also Abbildungen von Männern in langem schwarzem Kaftan, mit Schläfenlocken und großem Hut, werden als Image zur Illustration des Judentums hier in Deutschland genommen, was absolut nicht der jüdischen Realität hier entspricht. Außerdem wird alles, was in Israel passiert auf das jüdische Leben hier übertragen. Zuletzt die Betrachtung des Judentums allein unter dem Aspekt der Shoah – als sei das Judentum etwas, dass allein an Gedenktagen stattfände.
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