engels: Frau Friedrich, eine Vorstellung von Geburt lautet: Es dauert, so lange es eben dauert. Ist der Normalfall?
Jana Friedrich: Jein, würde ich sagen. Natürlich ist es der Idealfall, wenn man der Natur einfach seinen Lauf lässt. In der Klinik gibt es aber geburtshilfliche Richtlinien, nach denen eine Geburt in einem bestimmten Zeitrahmen voranschreiten soll. Wenn eine Frau unter der Geburt steht und im Kreißsaal aufgenommen wurde, hat man also immer ein wenig die Zeit im Kopf. Wen die Geburt nicht innerhalb dieser Regeln voranschreitet wird meist nachgeholfen, etwa durch einen Wehentropf. Das kann manchmal auch eine Berechtigung haben. Eine lange Geburt ist sowohl für die Mutter als auch für das Kind sehr anstrengend. Man muss immer abschätzen, ob der Körper gerade eine Pause macht, die man respektieren sollte, oder ob etwas nicht rund läuft, bei dem man nachhelfen sollte. Aber in der Regel können Frauen das eigentlich auch alleine ganz gut und brauchen kaum medikamentöse Unterstützung – das System funktioniert ja schon ein paar tausend Jahre.
Welche Möglichkeiten gibt es, eine Geburt zu beschleunigen?
In erster Linie Wehenmittel, wenn die Frau schon unter der Geburt steht, oder auch noch früher, indem man die Geburt künstlich einleitet. Es gibt auch die Möglichkeit, eine Eipollösung zu machen. Dabei wird beim Untersuchen die Fruchtblase etwas vom Muttermund und dem Bereich darum herum gelöst. Dabei werden Hormone freigesetzt, die ebenfalls Wehen auslösen. Man könnte auch die Fruchtblase eröffnen. Auch das bringt oft mehr Wehen. Das sollte man aber nicht machen, da es eine nicht rückgängig zumachende Intervention ist, die auch wieder viele andere Handlungen nach sich ziehen kann. Früher wurde das aber durchaus oft gemacht. Ich hoffe, heute nicht mehr. Wenn das Kind schon relativ weit durchs Becken gerutscht ist, kann man auch mit einer Saugglocke nachhelfen, oder indem man ein wenig auf den Bauch drückt. Aber auch das sind drastische Maßnahmen, die nur im Notfall durchgeführt werden sollten.
Wie hat sich die Zahl der Kaiserschnitte entwickelt?
Laut der WHO sind 10 bis 15 Prozent Kaiserschnittgeburten normal. Bei uns beträgt der Anteil aber 30 Prozent und mehr, das ist eigentlich viel zu viel. Eine Zeitlang hatten viele Frauen tatsächlich verstärkt den Wunsch nach einem Kaiserschnitt, das ist aber inzwischen auch schon wieder rückläufig – das ist zumindest mein Eindruck. Für einen Kaiserschnitt braucht man immer eine Indikation. Allerdings werden diese Indikationen immer großzügiger interpretiert, es finden sich immer mehr Gründe für einen Kaiserschnitt, weil die Frauen ja auch immer mehr Risiken mitbringen. Also in der Schwangerenbetreuung werden immer mehr Risiken gefunden. Man darf allerdings ein Risiko nicht mit einem Befund verwechseln. Ein Befund ist das Vorliegen einer Erkrankung oder Komplikation. Ein Risiko ist nur eine erhöhte Wahrscheinlichkeit. Psychische Gründe sind durchaus auch gute Gründe für einen Kaiserschnitt, etwa, wenn die Frau sexuellen Missbrauch erlebt hat. Häufig sind Kaiserschnitte aufgrund eines vorangegangenen Kaiserschnitts. Mancherorts, in Berlin etwa, ist diese Tendenz aber auch wieder rückläufig.
Wie groß ist der Druck, diese Möglichkeiten auszuschöpfen?
Das ist sehr abhängig von der jeweiligen Klinik-Regeln, oder auch von deren Leitung. Man kann sagen, je größer die Klinik, desto enger sind die Korridore, in denen man agieren kann. Es gibt bestimmte Regeln nach Lehrbuch, in dem nach so und so vielen Stunden ein Geburtsfortschritt erreicht sein muss. In einer großen Klinik, in der viel los ist und viele Kinder geboren werden, sind diese Regeln eben enger gefasst, da sind auch kaum Ausnahmen möglich. Deshalb finde ich auch diese politisch gewollte Zentralisierung schwierig: Es werden große Level-1-Zentren gebaut. Aber die Frauen kommen da in eine Maschinerie hinein, die ihnen gar nicht so gut tut.
Gibt es auch ökonomische Gründe?
Natürlich, vor allem in Belegkrankenhäusern, die niedergelassenen Ärzten per Vertrag ihre Ressourcen zur Verfügung stellen. Die Ärzte in so einem Beleg-System haben unter Umständen ein Interesse daran, das es möglichst zügig geht, damit sie wieder zurück in ihre Praxis zu ihren anderen Patienten können. Das ist eben ein Unterschied zu einem angestellten Arzt, das beeinflusst das Handeln durchaus. Zumindest gab es in Berlin mal eine Belegklinik mit einer wahnsinnig hohen Kaiserschnittrate. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Welche gesundheitlichen Risiken entstehen durch diese Eile?
Natürlich kann jede Intervention auch Nebenwirkungen haben – wenn etwa das Wehenmittel zu hoch dosiert ist, dann kann die Gebärmutter reißen. Je mehr und vor allem umso länger man Wehenmittel gibt, desto größer ist die Blutungsgefahr nach der Geburt. Auch für das Kind kann es Stress bedeuten. Oft jagt eine Intervention die nächste: Die Frau hält die Schmerzen nicht aus und bekommt ein Schmerzmittel, dadurch kann sie sich nicht mehr so bewegen wie sie sollte, dann geht es wieder dem Kind schlecht, weil es länger dauert.
Haben die Eltern einen Anteil an der Entwicklung, etwa weil die Geburt in den Terminplan passen muss?
Nur in ganz seltenen Fällen. Die Einleitung geht manchmal von den Eltern aus, auch wenn wir ihnen sagen, dass es gut ist, wenn die Geburt von allein losgeht. Die meisten Eltern wünschen sich diese Natürlichkeit auch. Die wenigsten haben den Wunsch, dass eingegriffen wird. Zumindest nicht von vornherein. Wenn sie dann mittendrin sind, gibt es manchmal schon den Wunsch zur Beschleunigung.
Wie wichtig sind Vor- und Nachbereitung?
Ich glaube schon, dass dieses Ereignis Geburt viel mehr Aufmerksamkeit bekommt, als früher. Früher haben sich die Leute gedacht: Das haben so viele vor mir hinbekommen, das schaffe ich auch. Heute haben viele ganz genaue Vorstellungen, gehen zum Yoga und zur Hypnose und lesen viel. Dennoch unterschätzen viele noch, was hinterher auf sie zukommt. Das Leben verändert sich eben total. Aber viele bereiten sich vor. Meine Kurse sind zumindest immer gut besucht.
Welche Alternativen gibt es für eine „entschleunigte“ Geburt?
Es gibt etwa die außerklinische Geburtshilfe, die ist allein schon deshalb viel natürlicher, weil einem viele Möglichkeiten dort nicht zur Verfügung stehen – einen Wehentropf gibt es nicht im Geburtshaus. Es gibt auch die Möglichkeit, mit einer Beleghebamme zu arbeiten, die man mit ins Krankenhaus nimmt. Die unterliegt zwar den dortigen Regeln, hat aber immer noch einen Sonderstatus. Es gibt diese wellenförmigen Entwicklungen in der Geburtshilfe, und ich glaube, dass wir gerade wieder ein wenig zurückrudern. Zurzeit werden viele Leitlinien neu geschrieben, und gemessen an dem, was man so liest, geht es wieder etwas weg von einem rigiden Regelkorsett. Das hoffe ich zumindest.
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