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Martin Geisler
Foto (Ausschnitt): Martin Geisler

„Viele Spiele haben noch einen sehr infantilen Touch“

31. Oktober 2024

Teil 2: Interview – Medienpädagoge Martin Geisler über Wandel in der Videospiel-Kultur

engels: Herr Geisler, Sie haben das Institut Spawnpoint mitbegründet, das sich mit Spiel- und Medienkultur beschäftigt. Wie kam es dazu?

Martin Geisler: Die Geschichte ist die, dass sowohl mein Kollege Gerrit Neundorf als auch ich beim Landesfilmdienst Thüringen e.V., einer medienpädagogischen Einrichtung, aktiv waren. Wir haben damals natürlich alle Medien bearbeitet und uns ist aufgefallen, dass es im Spielbereich einen großen Bedarf gibt. Das war 2007, damals war die gesellschaftliche Kluft zwischen Spielenden und den Kritikern noch sehr groß. Wir haben sehr schnell gemerkt, dass wir uns als Medienpädagogen ausschließlich den digitalen Spielen zuwenden können und immer noch sehr viel zu tun haben. Deswegen haben wir es herausgelöst, am Anfang als Zweig des Landesfilmdienstes, und später unter dem Titel Institut für Computerspiel als eigenständigen Verein neu gegründet. 2013 gab es eine Finanzierungslücke und seit der Refinanzierung, die aktuell noch läuft, sind wir das Institut für Spiel- und Medienkultur. Das hat den Hintergrund, dass wir gesehen haben, dass das digitale Spiel als eine Art Brennglas funktioniert und von sich aus weiter reicht. Das heißt, wenn wir uns über digitale Spiele unterhalten, müssen wir uns immer auch das Spiel von seinem Wesen her anschauen. Auf der anderen Seite ist es natürlich auch ein Medium, insofern bleibt der medienpädagogische und kulturelle Bezug relevant. Deswegen sind wir jetzt etwas breiter aufgestellt mit dieser neuen Namensgebung.

Wie nähern sie sich diesen Fragen?

Es gibt nicht viele Einrichtungen, die sich so konkret damit beschäftigen. Wir haben gute Beziehungen zu der einen oder anderen Einrichtung, etwa zum Institut Spielraum in Köln – das gibt es als solches zwar nicht mehr, aber die beteiligten Personen sind noch da. An der TH Köln, mit dem wir eng zusammenarbeiten, gibt es sehr bekannte Spielpädagog:innen. Uns geht es darum, Modellprojekte zu entwickeln, diese lehnen sich oft an User Generated Content an, also an von Nutzern generierte Inhalte. Das heißt, dass wir davon ausgehen, dass die Spielenden die Experten für ihr eigenes Medium sind. Wir wollen nicht von außen beschützen oder behüten oder eine Schutz-und-Schmutz-Diskussion anfangen, das liegt uns fern. Spawnpoint setzt sich damit auseinander, kulturelle Schnittpunkt zu entwickeln – das heißt, wir sehen uns bei einem Computerspiel an, was man daraus alles herauslesen kann, was man alles hineinpacken kann. Wir sind auch gerne beratend bei der Entwicklung von Spielen tätig, gehen aber gerne auch weg vom Spiel, und beschäftigen uns mit ganz verschiedenen Ansätzen: künstlerischen, sportlichen. Wo findet sich im digitalen Spiel, das ich ja selbst ausgewählt habe, ein Bezug zu meiner Lebenswelt und wie kann ich darüber reflektieren und im Idealfall Schlüsselkompetenzen erwerben? Dabei geht es uns weniger um die harten Kompetenzen, die man auch in der Schule lernt, auch nicht um das Naheliegende, wie Hand-Augen-Koordination oder Sprache, das ist uns viel zu kurz gedacht. Wir reden vielmehr von Kommunikationsfähigkeiten, von Frustrationsfähigkeiten, wir reden von Selbstausdruck, von Teamfähigkeit und so weiter und so fort. Neben dieser Modellprojektentwicklung machen wir auch Weiterbildung, versuchen öffentliche Kunst- und Kultur-Events zu organisieren, um verschiedene Zielgruppen zueinander zu bringen. Wir setzen uns natürlich auch mit der Theorie auseinander, publizieren Bücher, machen Evaluationen und zum Schluss OER-Projekte, also Open Educational Ressources, das heißt, das, was wir an Handreichungen erarbeiten, soll auch anderen Multiplikatoren kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Das können wir natürlich nicht immer alles gleichzeitig machen, dafür sind wir viel zu klein.

„Die Videogame-Branche hat die Musik- und Filmindustrie hinter sich gelassen“

Die Videospielszene hatte seit den 80ern lange Zeit ein Schmuddel-Image von sozialer Inkompetenz und Gewaltverherrlichung. Heute sind Videospiele ein zentraler Kultur- und Wirtschaftsfaktor. Wie kam es zu diesem Wandel?

Das hat natürlich viele verschiedene Ebenen. Es ist auf der ganz einfachen Ebene natürlich so, dass digitale Spiele kein junges Medium mehr sind. Klar, wenn ich mich heute mit jungen Spielern unterhalte, betrachten die mich als alten Mann, aber dieser alte Mann hat eben die Kinderschuhe des Computerspiels selbst miterlebt und es gibt nun eine Generation von Eltern, Pädagogen, Politikern und anderen Multiplikatoren, die selbst eine Computerspiel-Biographie durchlaufen haben – die für sich gemerkt haben, dieses Medium steht neben vielen anderen Medien. Zu diesem biographischen Aspekt hinzu kommt, dass wir es mit einem ökonomisch sehr erfolgreichen Medium zu tun haben: Die Videogame-Branche hat Musik- und Filmindustrie zusammen hinter sich gelassen, beide Branchen sind inzwischen weniger umsatzstark – vielleicht noch nicht in Deutschland, aber global auf jeden Fall. Als Angela Merkel 2017 die Gamescom eröffnete und sagte, das ist ein wichtiges Medium, dann hat sie dies zwar ökonomisch legitimiert, aber deswegen hat sie nicht weniger recht. Ess ist natürlich so, dass das Computerspiel auch ein marktwirtschaftlicher Faktor ist. Ich mag diese Legitimation aus rein ökonomischen Gesichtspunkten nicht so sehr, denn dann wird auch über Qualität anders entschieden. Als für 2011 der dritte Computerspiel-Preis [Deutscher Computerspielpreis (DCP); d. Red.] vergeben wurde, hatte „Crysis 2“ den ersten Platz als bestes deutsche Spiel bekommen, da kam es zu einer sehr lauten Diskussion, wie denn ein Shooter bestes Computerspiel sein kann. Natürlich kann es das, abgesehen davon, dass es ganz verschiedene Kategorien gab, in denen dieser Preis verliehen wurde. Die Aneignungs-Ebenen sind also vielfältig – die öffentliche Diskussion um Computerspiele, die seinerzeit sehr dämonisierend war, hat dazu beigetragen den Blick kritisch, aber auch analytisch werden zu lassen. Wenn behauptet wird, Computerspiele machen dick, doof, einsam und aggressiv, die Forschung aber auch in ihrer Breite zu anderen Ergebnissen kommt, wird das irgendwann auch öffentlich wahrgenommen. 

„Spiegelbild der Gesellschaft“

Wie beeinflusst die Entwicklung vom Einzelspieler-Modus hin zur Vernetzung mit vielen Spielern die soziale Interaktion?

Das spielt sicherlich seinen Part, obwohl ich ein wenig von der internationalen Ebene zurücktreten würde, weil wir feststellen, dass die meisten Spielenden doch in ihrer Sprache, oder maximal im Englischen bleiben. Das ist übrigens eine sehr spannende Fragestellung, mit der sich Spawnpoint sehr intensiv beschäftigt, nämlich mit der Frage, ob diese Kultur tatsächlich offener ist als die Alltagskultur – und wir stellen fest, sie ist es nicht, sie ist bisweilen, je nach Genre, sogar geschlossener. Denken wir an die Shooter, wo tatsächlich ein Spiegelbild der Gesellschaft vorherrscht, einschließlich nationalistischer Tendenzen. Eine internationale Dimension hat es im Bereich E-Sports [Videospiel-Wettkämpfe; d. Red.]: Wir merken, dass große internationale Titel weit über ihre Landesgrenzen hinaus strahlen und damit natürlich ein Wettbewerb stattfindet. Und da ist Deutschland gar nicht so schlecht dabei, in „Fifa“ [Videospielturnier, organisiert vom Weltfußballverband Fifa und dem Videospielentwicker EA Sports; d. Red.] sind wir etwa recht erfolgreich. Die E-Sports-Szene hat sich in den vergangenen Jahren professionalisiert, das kann man gut finden, ich persönlich bin aber ein Freund davon, den E-Sport auch als Breitensport zu verstehen und eben nicht nur so, dass jeder große Fußballclub nebenbei noch seine eigene E-Sport-Mannschaft unterhält – soweit ist es jedenfalls schon. Das ist wieder eine sehr ökonomische Sichtweise, und da sind mir die Strukturen von kleineren E-Sport-Events oder auch von Clans und Gilden lieber. Da stellen wir in den letzten Jahren tatsächlich fest, dass die die doch sehr abgenommen haben: Die Kohärenz dieser Gruppen ist heute weniger stark, teilweise auch durch die Gestaltung der Spiele. Heute ist das gemeinsame Spielen sehr fluide geworden – man spielt ein paar Stunden mit einander und geht dann wieder auseinander. Früher waren in Shooter-Clans zehn, zwanzig Personen organisiert, bei Rollenspielen waren es um die hundert, heute haben sie bei Spielen wie Fortnite und Co. eher Mikrogruppen von bis zu vier Leuten. Dadurch ändert sich der soziale Aspekt dahinter natürlich wieder. Noch ein Aspekt bezüglich der Anerkennung von Computerspielen: Der Markt versucht sich natürlich permanent, neue Nutzergruppen zu erschließen, man beachte etwa die Zunahme weiblicher Spielerinnen in dem ursprünglich von mehrheitlich männlichen Nutzern geprägten Markt. Ich habe also ein Medium das einerseits versucht, sich breit aufzustellen, gesellschaftlich legitim zu sein und immer neue Zielgruppen zu eröffnen. Mittlerweile werden also Mädchen und Jungen, die erwachsene Spielergruppe und sogar Senioren angesprochen. Auch die Geräte haben sich sehr verändert: Früher dominierte der PC, dann die Konsolen, das wechselte sich dann immer ein wenig ab, und jetzt haben wir einen absoluten Schwerpunkt auf Smartphones und Tablets. Damit verändern sich aber auch wieder die Spiele, weil ich natürlich am Tablet kein so komplexes Spiel wie am PC spiele. 

„Fußball spiele ich immer nur als ich selbst“ 

Gibt es etwas, das Videospiele gegenüber anderen Spielen exklusiv haben?

Ich persönlich bin eher ein Freund davon, zu inkludieren und zu fragen, was ist in beiden Bereichen vorhanden. Aber wir haben ein konkretes Beispiel, denn die WHO hat vor Corona noch ein wenig vor Computerspielen gewarnt – das war damals sicherlich nachvollziehbar, weil die Diskussion vor allem um pathologisches Spielverhalten geführt wurde, auch völlig zurecht. Während der Pandemie aber gab es dann eine Kampagne der WHO mit dem Hashtag #playaparttogether, weil gesagt wurde, wenn ihr schon zuhause bleiben müsst, dann spielt wenigstens zusammen. Das ist sicherlich ein Alleinstellungsmerkmal: Natürlich kann ich über die Mittelbarkeit des Computerspiels sehr intensiv miteinander spielen. Ich würde aber noch einen zweiten Aspekt dazuzählen, der öffentlich weniger beachtet wird: Es geht dabei um „Kann“-Optionen, aber wenn ich mich im E-Sport bewege - oder in Clans allgemein, es muss ja nicht in einem Ligabetrieb sein – bewege ich mich auf drei Ebenen: Erstens in meinem Spielprozesses, innerhalb dessen ich eine Aufgabe habe, das ist auch bei jedem Fußballspiel so. Zweitens begegnen wir uns aber auch als Alltagsmenschen, die sich zwischen den Spielzeiten auch einfach über sich unterhalten, was bei Clans auch der Fall ist, wenn sie sich real treffen. Dann sind auch die eben das, was ihnen oft genug abgesprochen, nämlich einfach eine Art Clique. So begegnen sich die Menschen auf mehreren Ebenen. Es gibt hier aber noch eine dritte Ebene, die nicht nur, aber vor allem im Computerspiel vorkommt: Die Gestaltung des Avatars, meiner Figur. In diese Figur fließen eigentlich immer auch Aspekte meiner Persönlichkeit mit ein, Wünsche, Sehnsüchte, Hoffnungen. In jedem großen Clan, den ich kenne, folgt daraus irgendwann die Frage: Warum heißt du so? Warum siehst du so aus? Es werden Mini-Analysen getätigt und hobby-psychologische Fragen gestellt, wie „warum erfindest du dich auf diese Weise neu?“. Wenn diese drei Sachen zusammenkommen, können wir feststellen, dass manche Clanspieler sagen, der Clan ist meine Familie, er wird also soziologisch gesehen zur Primärgruppe. Das kann in der Alltagswelt natürlich genauso passieren, aber da fehlt der Aspekt, sich selbst neu zu erfinden. Fußball spiele ich immer nur als ich selbst, da brauche ich mich nicht neu zu erfinden.

„Absurde Phänomene“

Die Diskussion über Jugendgefährdung durch Videospiele ist leiser geworden. Gibt es in der Videospiel-Welt neue Gefahren? 

Absolut. Ich würde gar nicht mal sagen, dass die alten Diskussionen in den Hintergrund gerückt sind, aber sie sind sachlicher geworden, das ist schon mal wünschenswert. Wir erleben durchaus auch eine Gewaltspirale, das lässt sich auch an der Forschung ablesen, aber was wir auch merken, dank mehrerer großer Studien, ist, dass die Überlegung „Durch Gewalt im Medium kommt es zu mehr Gewalt im Alltag“ nicht aufgeht. Das Ganze ist eben multifaktoriell, das haben wir längst verstanden. Man kann die Frage kritisch stellen und kann sie weiter erforschen, aber im Großen und Ganzen hat sich das beruhigt. Die Frage nach pathologischem Spielverhalten ist nach wie vor aktuell, die ist auch nicht von der Hand zu weisen. Wir haben durch die Aufnahme des Störungsbildes in die diagnostischen Manuale mittlerweile auch Handreichungen und es freut mich sehr, dass die Suchtberatungszentren in dieser Frage inzwischen relativ professionell sind. Die haben sich in den vergangenen Jahren sehr stark in der Medienpädagogik informiert, wie sie damit umzugehen haben und wir haben auch ein paar Kliniken, in denen Betroffene behandelt werden können – immer noch zu wenige, meiner Ansicht nach. Manche waren besorgt, dass es zu einer „Überpathologisierung“ kommen würde, sobald es in die diagnostischen Manuale aufgenommen wird, so dass jeder, der mal vier Stunden zu viel spielt, gleich als abhängig gilt. Das hat zum Glück nicht stattgefunden. Ein Risiko wird allerdings momentan innerhalb der Szene sehr intensiv diskutiert, das von der Öffentlichkeit noch sehr wenig wahrgenommen wird, nämlich die Monetarisierungsstrategien. Während es früher diesen Clash gab zwischen Öffentlichkeit und Gamer-Szene – gemeint sind sowohl Spielende als auch Produzierende – haben wir inzwischen eine neue Front, nämlich die zwischen den Spielenden und den Publishern, also den Computerspiel-Verlagen. Auf der einen Seite kommen immer wieder Spiele auf den Markt, die extrem unfertig sind, wie zuletzt etwa „Star Wars – Jedi Survivor“, das siebzehn Monate nach Erscheinen einigermaßen spielbar war, das ärgert natürlich jeden, der da 70, 80 Euro für ein Spiel ausgibt. Das größere Problem sind aber die Spiele, vor allem auf dem Tablet und dem Handy, die scheinbar kostenlos daher kommen, aber mit sehr professioneller psychologischer Unterstützung Strategien verfolgen, den Spielenden immer wieder Kleinstbeträge abzuverlangen – indem man etwa einen „Diamanten“ kaufen muss, den man im Spiel braucht um weiterzuspielen. Teilweise bezahlt man auch, Level überspringen zu können – man bezahlt also, um nicht zu spielen, das sind schon sehr absurde Phänomene. Das gibt es auch in großen Blockbuster-Spielen, das war bei „Battlefield“ so, das war bei „Fifa“ so. Das heißt, wir als Medienpädagog:innen müssen auch eine Art von Finanzkompetenz schulen, damit die Spieler sich eben nicht verschulden. Auf einer kulturellen Ebene muss man wirklich aufpassen, dass das Medium an sich nicht darunter leidet, denn irgendwann können solche Tendenzen dazu führen, dass es als Medium schlechter wird – selbst große Spiele wie die „Diablo“-Reihe sind so schlecht monetarisiert worden, dass sich die Spielenden einfach abwenden. Das kann gleich zu mehreren Problemen führen: Auf der einen Seite müssen wir die Spielenden schützen, nicht nur Kinder, sondern auch junge Erwachsene und auf der anderen Seite müssen wir es politisch diskutieren: Welche Schranken können wir setzen? Ich als Medienpädagoge kann aufklären, ich kann der Videogame-Industrie nicht sagen, lasst das mal – obwohl andere Länder das auch schon getan haben, indem sie mit der Nähe zum Glücksspiel und der Suchtgefahr argumentiert haben. 

„Ein Spiel darf auch einfach nur Spaß machen“

Was halten Sie von Gamification, also dem Einsatz von Videospielen in Bildung oder Arbeit?

Ja, „Gamification“ und „Serious Games“, das sind Begriffe, die sehr stark diskutiert werden, es sind aber Teilbereiche eines übergeordneten Themas, nämlich des „digital game-based learning“ [digitales spiel-basiertes Lernen; d. Red.]. Das bezeichnet genau diesen Zusammenhang – wo kann Bildung stattfinden und wo findet Gaming statt? Da gibt es mehr als nur zwei Kategorien: Es gibt die klassischen Lernspiele, die dafür gedacht sind, auch im Unterricht eingesetzt zu werden und oft sehr unattraktiv sind, dann gibt es die „Serious Games“, also Spiele, die ein Thema bearbeiten, nicht nur ein Produkt sein sollen, das Spaß machen soll und mit dem man Geld verdienen will, sondern auch eine Message haben – dafür braucht es allerdings auch die Bereitschaft der Spielenden, diese Message lesen zu wollen. Das ist manchmal ein wenig zu direkt, manchmal aber auch richtig gut gemacht: Spiele wie „This War of Mine“, das den Spielenden als Zivilisten in ein Kriegsszenario wirft, in dem man eben nicht der Supersoldat ist, sondern überleben muss und vor sehr schwierige moralische Fragen gestellt wird, machen mehr als nur Spaß – manchmal machen sie auch gar keinen Spaß mehr. Eine ganz wichtige Kategorie sind außerdem die „Expressive Games“: Wir haben in der Medienpädagogik eigentlich schon immer damit gearbeitet, dass Menschen sich selbst ausdrücken, ob durch Filme, Webseiten, Hörspiele oder was auch immer – das wurde im Bereich Computerspiel ganz lange nicht gemacht, inzwischen aber schon. Den Begriff „Gamification“ mag ich dagegen nicht, denn das meint die Übertragung von Spielinhalten in Nicht-Spielkontexte. Das Belohnungssystem einer Jogging-App, wenn ich bei Duolingo Diamanten für meine Eule bekomme, oder wenn bei McDonalds der Mitarbeiter des Monats durch solche Spiele ermittelt wird, all das hat sehr stark behavioristische Züge. Die passen supergut in ein kapitalistisches Weltbild, aber in keines, in dem ich leben wollen würde. Es gibt Ausnahmen, etwa bei der Feuerwehr, der Virtual Reality und Augmented Reality erlauben, in der Ausbildung ganz neue Wege zu gehen. Das ist auch Gamification und sehr zu begrüßen, hat aber nicht viel mit dem zu tun, was wir im Allgemeinen unter Erwachsenenbildung verstehen. Kurz gesagt, ich finde es gut, wenn Spiel und Bildung zusammengedacht werden. Was aber auch viel diskutiert wird, ist der „Value of Play“, der Wert des Spieles. Da merkt man es schon an der Sprache: Wenn ich einfach nur meinen Englisch-Unterricht mit einem Computerspiel aufpeppen will, ist mir das zu kurz gedacht, denn Bildung darf auch einfach nur Bildung sein und ein Spiel darf auch einfach nur Spaß machen. Aber wenn wir es ganz vom Anfang her denken, dann ist eigentlich jede Art von Lernprozess ein spielerischer Prozess. Nietzsche hat mal gesagt, er kennt eigentlich gar keine andere Art mit einem Problem umzugehen, als zu spielen. Also schon das Gedankenspiel ist ein Spiel. Und diese klassische Sichtweise auf die Zusammenhänge von Spiel und Bildung finde ich sehr begrüßenswert.

„Ein Computerspiel ist Zeugnis seiner Zeit“

Videospiele sind durch Wettbewerb, Belohnungsprinzipien und Selbstoptimierung geprägt. Kann das in der wirklichen Welt helfen oder verengt es sie eher?

Auf der einen Seit haben wir die, die genau das wollen und suchen, auf der anderen Seite müssen wir uns aber auch vor Augen halten, dass das Videospiel ebenso wie jedes andere Medium eines ist, das durch die Spielenden interpretiert wird. Wir sollten nicht so tun, als ob die Spielenden Opfer des Mediums wären und es ausschließlich nur so anwenden können, wie es gedacht ist. Prinzipiell ist ein Computerspiel immer auch ein Zeugnis seiner Zeit und wir haben bereits mehrmals über Ökonomisierungstendenzen gesprochen, das fällt auch im Computerspiel auf. Wenn wir ins Detail gehen, stellen wir fest: Spiel braucht Regeln, immer. Die Balance im Spiel ist eben die zwischen Freiheit und Regelhaftigkeit. Aber wir dürfen Regeln nicht mit Befehlen verwechseln und da gibt es tatsächlich viele Spiele, die das nicht gut machen – die geben praktisch den Befehl, „Spiel mich so und so!“. Und dann spielt man es im wahrsten Sinne ab und hat wenig Handlungsraum. In einem Regel-Raum aber sagt mir das Spiel „Das sind die Regeln auf die wir uns einigen – innerhalb dieser darfst du tun und machen“. Indem wir diesen Regelrahmen setzen, ist es für mich völlig legitim, Selbstwirksamkeitsstrategien zu entwickeln – was kann ich hier, in diesem Raum, machen? Und zwar sowohl in dem Raum, den die Spielregeln vorgegeben haben, als auch über den Regelrahmen hinaus – mit Cheats [Mogeleien; d. Red.] etwa. Die lehne ich als Spieler natürlich ab, aber wenn ich den Bereich In-Game-Fotografie oder Machinima gehe – also Fotografie oder Film innerhalb des Spiels – brauche ich diese Cheats, um mehr Einfluss auf die Welt zu erlangen. Damit wird das Spiel zur Spieloberfläche, ich spiele mit dem Spiel, wenn man so möchte. Das heißt aber auch, wir brauchen den kritischen Konsumenten, oder die Konsumentin, die merkt, dass das Spiel etwas ist, mit dem man etwas machen kann, und das nicht nur einfach da ist, um mich auf einer niedrigschwelligen Reiz-Ebene zu befriedigen. Wenn wir ganz weit zurückgehen wollen: Diese Diskussion haben wir schon mit Aristoteles auf der einen und Bertolt Brecht auf der anderen Seite geführt. Während Aristoteles sagt, „Schau dir das an, entspanne dich, bau deine Wut über das Medium ab und gut is'“, also einen eher passiven Umgang mit dem Theater propagiert, sagt Brecht, „Nein, wir müssen in die Aktivität gehen, das Spiel muss aufrütteln, bewegen“. Selbst aus dieser Sicht haben wir Spiele, die sehr narrativ sind und mehr oder weniger abgespielt werden, aber so viele Themen ansprechen und immer noch genügend Freiheiten lassen, dass man das Spielerlebnis als das eigene betrachten kann. Das wäre das, was ich mir wünschen würde – dass Spiele Regeln setzen, aber keine Befehle. 

„Computerspiele müssen sich davon abwenden, ein Kindheitsmedium zu sein“

Sind Videospiele Kunst? 

Das ist immer noch eine schwierige Frage. 2008 hat der deutsche Kulturrat Computerspiele als Kulturgut anerkannt, das liest man viel. Wenn man aber genau hinschaut, hat der Rat nicht das Computerspiel als Kulturgut anerkannt, sondern er hat die Schaffenden in der Branche – die Grafik-Designer, Drehbuch-Autoren, Komponisten und so weiter – als kulturell Tätige anerkannt. Die waren aber vorher schon Kulturschaffende, das hat nicht die Szene als solches in den Blick genommen. Es gibt inzwischen aber auch viele Künstler, die sich dem Medium zuwenden, deren Spiele sind nur meistens nicht populär und werden auch nicht intensiv gespielt. Wie bei vielen anderen Kunstrichtungen auch, haben wir hier also die Frage nach der Deutungshoheit – also, wann unterscheidet sich das Kulturgut Spiel, was es immer ist, von einem Kunstobjekt, das einen künstlerischen Anspruch hat? Dann haben wir wieder die zwei Ebenen: Die Entwickler:innen, die ein Spiel als Kunstobjekt bauen und die Spielenden, die es auch als ein solches interpretieren können. Sie können auch von einem Spiel ausgehen und von sich aus künstlerische Tendenzen entwickeln, obwohl das Spiel selbst gar nicht so gedacht war – wenn ich etwa über das Spiel „Alien: Isolation“ dazu komme, mich mit H. R. Giger zu beschäftigen und darüber zum Surrealismus komme. Das ist natürlich eine sehr freie Variante, die ich sehr begrüße. Wenn wir die Entwickler in den Blick nehmen, wie Neil Druckmann, der „The Last of Us“ entwickelt hat, oder auch Hidetaka Miyazaki, der für die „Dark Souls“-Reihe verantwortlich sind: das sind Künstler, die gar nicht anders können, als sich auf diese Art und Weise mitzuteilen und dafür das Medium des Computerspiels nutzen. Auch hier gilt wieder: Ich halte das für große Kunst, ich muss sie aber als solche lesen können. Ob ich im Louvre stehe und die Bilder einfach nur schön finde, oder ob diese bei mir Assoziationsketten auslösen, das ist immer eine schwierige Frage. Aber ich glaube, Computerspiele müssen anfangen, den Mut zu entwickeln, sich als Kunstwerke zu artikulieren und dabei ein wenig davon abwenden, ein Kindheitsmedium zu sein. Auch wenn die Spielenden das jetzt nicht gerne hören werden: Nicht alle, aber viele Spiele, die sich an Erwachsene richten, haben noch einen sehr infantilen Touch, gerade dank dieser platten Belohnungssysteme. Sie brauchen den Mut, auch mal etwas frecher zu sein, anzuecken, Aussagen zu tätigen, die gewagter sind, Thesen in den Raum zu stellen. Noch etwas kommt hinzu: Kunst braucht immer auch eine Archivkultur, ich muss sie auch nachvollziehen können. Und der Bereich steckt immer noch in den Kinderschuhen. Klar, ich kann die Konsole aufheben, ich kann die Datenträger aufheben, aber das Spielerlebnis als solches, das der Spielende empfindet, das wird noch nicht aufgezeichnet.

Interview: Christopher Dröge

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