Viel zitiert oder vielmehr aus dem Halbdunkel des Hörensagens hervorgekramt wird derzeit eine Umfrage, laut der die meisten Deutschen das Gefühl haben, öffentlich nicht sagen zu dürfen, was sie denken. „Ist ja auch richtig, wer ein Arschloch ist, muss nicht auch noch arschlochige Ansichten verlautbaren“, wird da bisweilen ins Feld geführt. Das ist im Prinzip vielleicht richtig, impliziert aber, dass die Mehrheit der Deutschen aus Arschlöchern besteht. Aber wir haben doch ein massives Problem mit Rassisten, hört man dann. Und Sexisten laufen auch immer noch zuhauf herum; schließlich sind die Hälfte aller Deutschen Männer. Und Homophobe, Transphobe, Verschwörungtheoretiker, Querdenker, Rechte, Neoliberale, Turbokapitalisten, alte weiße Männer, Putinversteher, Klimaleugner und dergleichen. Sind das nicht etwas viele Arschlöcher? Darin zeigt sich ein grundlegendes Problem unserer Debattenkultur. Sie denkt in Absolutismen – in Ismen generell.
Andere Meinungen unmöglich machen
Die Angst, sich falsch zu äußern, ist ein Symptom einer herrschenden cancel culture, also eines gesellschaftlichen Klimas, in dem es nicht um Auseinandersetzung oder wenigstens Duldung anderer Meinungen geht, sondern darum, andere Meinungen unmöglich zu machen. Dieter Nuhr und Lisa Eckhart sind berühmte Beispiele. Weil Nuhr Witze auf Kosten linker Positionen macht und Eckhart deutlich über das politisch Korrekte hinausgeht, gehören sie nach Meinung vieler komplett abgesägt. Absagen, Auftrittsverbote, Online-Shitstorms. Schauspieler verlieren wegen Tweets ihre Engagements, Redakteure verlassen ihre Posten, Manager werden geschasst. Denken wir da an ein totalitäres System, an Zensur oder Meinungsdiktatur? Aber nicht doch! „Wehret den Anfängen“ ist allein zur Warnung vor der Gefahr von rechts vorbehalten.
Doch es ist in der Dynamik des Internets nun mal so, dass Meinungen sich verselbständigen. Sie verstärken sich selbst. Wer Satire über die Letzte Generation macht, wird da innerhalb kürzester Zeit zum Klimaleugner, zum „humoristischen Arm der AfD“. Wer Witze über Ricarda Langs Gewicht macht, ist sicherlich Sexist. Früher haben selbst CDU-Mitglieder über Kanzler Helmut Kohls Gewicht gelacht.
Dabei bin ich noch aufgewachsen mit dem (tendenziell linken) Ideal, dass man Menschen nicht in Schubladen stecken soll. Dass Menschen eine zweite Chance verdient haben. Dass sie Fehler eingestehen können. Und dass eine Meinung oder eine Äußerung nicht den ganzen Menschen ausmacht. Wer Witze über Ausländer macht, hat vielleicht einen fragwürdigen Humor. In seltenen Fällen ist er sogar ausgemachter Rassist. Aber er ist mehr als das. Vielleicht sorgende Mutter, vielleicht engagiert im Stadtteil. Wenn ein Unternehmer mit seinem Geld und seinen Produkten das Klima zu retten versucht, aber lieber Männer als Frauen einstellt – ist er dann noch auf der Seite der Guten? Ist er einfach Teil einer Generation, in der der Wandel noch nicht angekommen ist? Kann das Klima auf seine Millionen an Umsatz verzichten?
Falsches Verhalten muss entschuldbar sein
Falsches Verhalten soll hier nicht entschuldigt werden. Aber es soll entschuldbar sein! Dabei ist auch die Frage zu klären, was falsches Verhalten überhaupt ist. Andere an den Pranger stellen kann nur jemand, der seine Meinung für die einzig richtige hält. Und das ist schon immer gefährlich gewesen. Oft geht es den Leuten nicht um Meinungsaustausch, sondern darum, den Diskurs zu lenken. Am Ende stünde eine Kanzel-Culture. Demokratie lebt aber nicht von Predigten oder Verlautbarungen. Sondern von Streit.
GRENZVERLETZUNG - Aktiv im Thema
report-antisemitism.de | Mit dem Meldeportal strebt die 2018 gegründete Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) an, „bundesweit eine einheitliche zivilgesellschaftliche Erfassung und Dokumentation antisemitischer Vorfälle zu gewährleisten“.
exit-deutschland.de | Die vor über 20 gegründete Initiative hilft Aussteigewilligen und ihren Angehörigen beim Ausstieg aus der rechtsextremen Szene.
better-police.de | Die 2021 gegründete „überparteiliche Sammlungsbewegung“ Better Police wirbt dafür, Institutionen zu schaffen, die die Arbeit der Polizei unabhängig kontrollieren.
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