Während die politische Stimmung in der BRD aktuell stark gegen Zuwanderung ausfällt, ist der Arbeitsmarkt langfristig jedes Jahr auf Zuwanderer „in substanziellem Umfang“ angewiesen. Das belegt eine Ende November veröffentlichte Studie der Bertelsmann-Stiftung, der zufolge bis 2040 jährlich rund 288.000 ausländische Arbeitskräfte erforderlich sind. Aktuell falle die Erwerbsmigration erheblich geringer aus. Die Studie zeigt: Fremdenfeindlichkeit und Rassismus gehen zulasten des Wohlstands.
Um Augenhöhe betteln
Während in der Politik weitgehend zwischen nicht gewünschter „humanitärer“ Migration – also Flucht aus Krieg, Unterdrückung und Elend – und gewünschter „erwerbsorientierter“ Migration – vor allem Fachkräfte für Industrie und Handwerk, aber auch Pflegepersonal – unterschieden wird, diskriminiert der deutsche Alltagsrassismus entlang ‚klassischer‘ Kriterien wie Herkunft und Hautfarbe. In einem Bericht der Deutschen Presse-Agentur (dpa) wird ein 29-Jähriger vorgestellt, der 2016 aus Syrien in die BRD kam. Er erwarb einen Bachelor und Master an Hochschulen in NRW, wurde zur IT-Fachkraft und verlässt nun Deutschland in Richtung Schweiz. „Ich habe hier Topleistungen gebracht, um als gleichwertig wahrgenommen zu werden, aber ich habe mich diskriminiert und abgelehnt gefühlt“, sagte er gegenüber dpa. Ihm sei viel Abwertung begegnet, egal ob im gesellschaftlichen Leben, im Studienumfeld oder im Nebenjob. Trotz Nebentätigkeit in einem Institut und einem sehr guten Master-Abschluss, habe er kein adäquates Jobangebot erhalten. Das Fazit des Mannes: „Ich möchte auf Augenhöhe behandelt werden, aber ich möchte nicht darum betteln.“ Für die Expertin der Bertelsmann-Stiftung für Migration, Susanne Schultz, ist der Fall „kein totaler Ausreißer“. Und weiter: „Deutschland kann sich so etwas nicht leisten und muss attraktiver werden.“
Da die Zuwanderung aus anderen EU-Staaten zuletzt stark gesunken ist und künftig kaum noch im nennenswerten Bereich liegen wird, werde Zuwanderung aus Drittstaaten immer wichtiger. 2023 kamen rund 70.000 Arbeitskräfte aus Drittstaaten, zugleich haben aber 20.000 Deutschland wieder verlassen. Der Grund: Problemen mit Aufenthaltstiteln, aber auch Diskriminierungen, wie im Fall des 29-jährigen IT-Fachmanns aus Syrien.
Wählerischer Rassismus
Gelingende Zuwanderung in den Arbeitsmarkt, da ist sich die Studie sicher, nutzt Unternehmen und Migranten gleichermaßen. Benachteiligungen sind aber real und sie haben einen überraschenden Trend: Diskriminierung schlägt in gehobenen Berufen stärker zu als in Jobs mit minderer Qualifikation, so der Befund von Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Je akademisch-gehobener der Beruf, desto stärker scheint die Ablehnung. Wo Zugewanderte Lehrer, Professoren oder Richter werden wollten, werde es problematisch. Befragungen zeigten, dass viele Leute kein Problem mit einem Syrer oder Muslim als Kollege haben, mit einem syrischen oder muslimischen Chef, Lehrer, Richter oder Bürgermeister indes schon. Während etwa Österreicher oder Schweizer wie Deutsche behandelt würden, zeige sich die Skepsis beispielsweise gegenüber Beschäftigten aus südeuropäischen Herkunftsländern. „Menschen aus der Türkei, dem Mittleren Osten und Schwarzafrika sind am stärksten von Diskriminierung betroffen, dann nimmt es in Richtung Fernost wieder ab“, so Brücker.
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Gegen welche Regel?
Intro – Flucht und Segen
Zum Schlafen und Essen verdammt
Teil 1: Leitartikel – Deutschlands restriktiver Umgang mit ausländischen Arbeitskräften schadet dem Land
„Es braucht Kümmerer-Strukturen auf kommunaler Ebene“
Teil 1: Interview – Soziologe Michael Sauer über Migration und Arbeitsmarktpolitik
Ankommen auch im Beruf
Teil 1: Lokale Initiativen – Bildungsangebote für Geflüchtete und Zugewanderte bei der GESA
„Ein Überbietungswettbewerb zwischen den EU-Staaten“
Teil 2: Interview – Migrationsforscherin Leonie Jantzer über Migration, Flucht und die EU-Asylreform
Ein neues Leben aufbauen
Teil 2: Lokale Initiativen – Der Verein Mosaik Köln Mülheim e.V. arbeitet mit und für Geflüchtete
Schulenbremse
Teil 3: Leitartikel – Was die Krise des Bildungssystems mit Migration zu tun hat
„Die Kategorie Migrationshintergrund hat Macht“
Teil 3: Interview – Migrationsforscher Simon Moses Schleimer über gesellschaftliche Integration in der Schule
Bildung für Benachteiligte
Teil 3: Lokale Initiativen – Der Verein für multikulturelle Kinder- und Jugendhilfe in Bochum
Das Recht jedes Menschen
Die Flüchtlings-NGO Aditus Foundation auf Malta – Europa-Vorbild Malta
German Obstacle
Hindernislauf zur deutschen Staatsbürgerschaft – Glosse
Glücklich erinnert
Teil 1: Leitartikel – Wir brauchen Erinnerungen, um gut zu leben und gut zusammenzuleben
Aus Alt mach Neu
Teil 2: Leitartikel – (Pop-)Kultur als Spiel mit Vergangenheit und Gegenwart
Nostalgie ist kein Zukunftskonzept
Teil 3: Leitartikel – Die Politik Ludwig Erhards taugt nicht, um gegenwärtige Krisen zu bewältigen
Das Spiel mit der Metapher
Teil 1: Leitartikel – Was uns Brettspiele übers Leben verraten
Es sind bloß Spiele
Teil 2: Leitartikel – Videospiele können überwältigen. Wir sind ihnen aber nicht ausgeliefert.
Werben fürs Sterben
Teil 3: Leitartikel – Zum Deal zwischen Borussia Dortmund und Rheinmetall
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 1: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
Demokratischer Bettvorleger
Teil 2: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
Europäische Verheißung
Teil 3: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
Stimmen des Untergangs
Teil 1: Leitartikel – Allen internationalen Vereinbarungen zum Trotz: Unsere Lebensweise vernichtet Lebensgrundlagen
Friede den Ozeanen
Teil 2: Leitartikel – Meeresschutz vor dem Durchbruch?
Vom Mythos zur Mülldeponie
Teil 3: Leitartikel – Wie der Mensch das Meer unterwarf