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Die Autorin und Regisseurin Stina Werenfels mit Kamermann Lukas Strebel
Foto: © Stina Werenfels

„Gleichstellung heißt auch: das Recht auf Familie“

30. April 2015

Filmemacherin Stina Werenfels über ihre Theateradaption „Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ und das Tabuthema Sexualität und Behinderung – Gespräch zum Film 05/15

Stina Werenfels, geboren 1964 in Basel, studierte zuerst Pharmazie in Zürich, dann an der New York University Film, u.a. bei Spike Lee und Arthur Penn. Ihr erster langer Kinofilm „Nachbeben“ (2006) wurde im Panorama der Berlinale uraufgeführt und mehrfach prämiert. Sie unterrichtet Filmschauspiel an der Zürcher Hochschule der Künste. Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ startet am 21. Mai im Kino.

engels: Frau Werenfels, was hat Sie an Lukas Bärfuss‘ Theaterstück so gepackt, dass Sie es verfilmen wollten?
Stina Werenfels: Es war dieser Widerspruch: Einerseits eine schutzbedürftige Tochter mit eigenem Willen und andererseits die Vorstellungen einer Mutter darüber, was für ihre Tochter richtig ist. Die Theatervorlage von Lukas Bärfuss endet mit einer Abtreibung und Doras Gebärmutterentfernung. Mich rief die Vorlage geradezu dazu auf, sie mit meinem weiblichen Blick neu zu Ende zu schreiben: Als Frau und Mutter wollte ich die Entwicklung der Mutter-Tochter-Beziehung untersuchen und Dora ihr Kind austragen lassen.

Worum ging es Ihnen? Ein Plädoyer für selbstbestimmte Sexualität?
Das ist es auf alle Fälle. An der Frage der Sexualität von Menschen mit Behinderung zeigt sich, wie liberal eine Gesellschaft wirklich ist. Inwieweit lässt sie das zu? Und wird eine Konsequenz, nämlich Schwangerschaft, in unserer Gesellschaft akzeptiert? Da gehen alle roten Fahnen hoch.

War es schwierig, die Abstraktionsebene des Mediums Theater mit den realistischeren Ansprüchen an einen Film in Einklang zu bringen?
Tatsächlich habe ich mich da sehr lange mit dem Stoff beschäftigt. Etwas ging bei der Transkription in die Gegenwart nicht auf. So musste ich mich stark mit der juristischen Lage auseinandersetzen: Gebärmutterentfernungen waren früher gängige Praxis zur Schwangerschaftsverhütung. Ein massiver Übergriff auf den Körper einer Frau! Inzwischen hat in fast allen europäischen Ländern eine Liberalisierungswelle zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung stattgefunden. In der Schweiz hat sinnigerweise das Erwachsenenschutzgesetz das alte Vormundschaftsgesetz abgelöst. Gleichstellung heißt auch: das Recht auf Familie.

Dennoch fragen manche Zuschauer, warum Dora überhaupt „mündig“ ist oder keine Dreimonatsspritze bekommt.
Selbstbestimmung ist heute das Maß aller Dinge, zumindest auf Gesetzesebene. Eine Bevormundung im früheren Sinne ist nicht mehr vorgesehen. Sobald dies in die Praxis umgesetzt wird, tauchen aber genau die alten Fragen wieder auf. So gab es die schockierende Reaktion:„Warum wird Dora nicht sterilisiert?“ Interessant ist, dass die Zuschauer dann oft über sich selbst erschrecken, etwa weil eugenische Vorstellungen durchscheinen.

Wie realistisch behandeln Sie die Frage der Verhütung?
Ich bleibe so nah an der Realität wie möglich. Tatsache ist, in der seriösen Sexualberatung wendet man nicht einfach Verhütungsregeln an, sondern versucht, individuelle Lösungen zu finden. Verhütung kann ja auch einem Missbrauch Tür und Tor öffnen, der dann nicht durch eine Schwangerschaft auffliegt. Darum ist Sexualaufklärung gerade bei Menschen mit Behinderung so wichtig.

Gewalt ist ein Stichwort: Warum muss Dora erst vergewaltigt werden, um ihre Sexualität entdecken zu können?
Das ist im Theaterstück drin und hat mich anfangs auch schockiert und lange umgetrieben. Von der Seite des Mannes her ist es ganz klar ein Übergriff. Auf Doras Seite ist wenig Klarheit: Sie sucht Sex, aber sie hat keine genaue Vorstellung davon, wie er zu sein hat. Sie erlebt ihr erstes Mal – wie wohl die meisten Frauen – äußerst zwiespältig: Es tut weh, aber es löst auch Wohlbefinden aus. Und wir schreien auf, als es auf diese Weise passiert. Später wird deutlich, dass Dora klar ausdrücken kann, was ihr gefällt und was nicht. Und dass sie dies auch durchzusetzen weiß.

Es gibt viele Reibungspunkte in Ihrem Film. War es schwierig, ihn produziert zu bekommen?
Unendlich schwierig. Denn ich sagte klar: Das wird nicht das mainstreamige „Feelgood Movie“, welches ihr erwartet. Der Stoff hat schon beim Lesen sehr viele moralische Fragen ausgelöst, ohne sie vorschnell zu beantworten. Wenn etwas schwierig ist, kommt ja aus lauter Selbstschutz die Frage auf, ob das diskutiert bzw. gefördert werden darf. Dank des Schweizer Fernsehens, eines privaten Investors und des Deutschen Filmförderfonds konnten wir dann in Deutschland drehen.

War es von Anfang an klar, dass Sie für die Dora eine nicht-behinderte Schauspielerin einsetzen wollen?
Wir haben Castings gehabt beim Berliner Theater RambaZamba, das behinderte Menschen zu Schauspielern ausbildet. Parallel suchten wir auf Theaterschulen und in Streetcastings nach unserer Dora. Ich stellte bei etlichen professionellen Schauspielerinnen ohne Behinderung fest: Der Stoff und die Nacktszenen lösen viele Ängste und Vorbehalte aus. Darum wurde es mir wichtig, jemanden zu besetzen, der die volle Dimension erkennt. Ich wollte niemanden manipulieren, was auch eine Form von Übergriff darstellen würde.

Zur Gestaltung: Doras Perspektive ist visuell eingeschränkt, verwischt – auch nach Absetzung der Tabletten. Warum?
Mir war wichtig zu zeigen, dass Dora einen poetischen Blick hat auf die Welt; dass sie Dinge sieht, die wir in unserem Nutzdenken schon längst anders anschauen. Sie fokussiert anders. Das wollte ich visuell klar unterscheiden. Später im Film gibt es immer noch subjektive Einstellungen, aber Doras Blick wird schärfer. Es war mir wichtig, ihre Entwicklung zu zeigen. Während der Drehbucharbeit und der Finanzierung hörte ich immer wieder, eine behinderte Hauptfigur sei unmöglich, weil sie sich nicht entwickeln könne. Da kamen ganz fürchterliche Vorurteile zum Vorschein.

INTERVIEW: JESSICA DÜSTER

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